Vor 50 Tagen verfügte die NRWRegierung, dass die Kitas geschlossen werden. Schrittweise werden sie wieder hochgefahren. Doch das ist gar nicht so leicht — es droht ein Personalproblem.
VIERSEN Um 12.15 Uhr ist Schluss mit der Notbetreuung für den fünfjährigen Finn. Seine Mutter ist da, um ihn abzuholen. Kindergärtnerin Tanja Schophoven öffnet die blaue Tür der Anne-Frank-Kita in Süchteln – Finns Mama muss draußen bleiben. Landesweit gilt in allen Kindertagesstätten ein Betretungsverbot. Zwölf Kinder werden heute in der Süchtelner Kita betreut, in drei Kleingruppen.
50 Tage ist es her, dass die Landesregierung die Schließung der Kitas verordnete. Lediglich eine Notbetreuung wurde zugelassen für Kinder, bei denen beide Elternpaare in systemrelevanten Berufen arbeiten. Am 13. März, einem Freitag, kam das entsprechende Schreiben bei der Stadt Viersen an. „Für Montag musste alles organisiert werden“, sagt die zuständige Beigeordnete Çigdem Bern. „Zwischen Jugendamt, Kitaleitungen und den freien Trägern hat an diesem Wochenende ein ständiger Austausch stattgefunden, um alle Vorkehrungen zu treffen – wie den Bedarf an der jeweiligen Kita feststellen, Eltern informieren, Einsatz des Personals organisieren, Bescheinigungsvordrucke für Arbeitgeber erstellen...“, erinnert sie sich. „Im Schulbereich hatten wir eine Vorlaufzeit von zwei Arbeitstagen, so dass
Eltern, Lehrkräfte und Schulträger sich auf die neue Situation einstellen konnten. Das hätten wir uns für den Kita-Bereich auch gewünscht.“
Drei Kinder sind es, die am Montag, 16. März, an der Anne-Frank-Kita die Notbetreuung in Anspruch nehmen. Finn ist nicht dabei, obwohl auch seine Eltern beide in „systemrelevanten Berufen“arbeiten, wie es so schön heißt. „Wir waren unsicher, wollten unser Kind lieber zu Hause betreuen“, erklärt seine Mutter. Die 38-Jährige arbeitet als Physiotherapeutin im Krankenhaus. „Ich habe mir das dreimal überlegt, ob ich meinen Sohn in die Kita schicken soll – und mich dann dagegen entschieden.“In den Stunden, in denen beide Eltern arbeiten, springt ihre Schwester bei der Betreuung ein.
„Das haben wir an vielen Kitas erlebt, dass Eltern ihre Kinder lieber nicht in die Einrichtung bringen, um sie nicht einer Ansteckungsgefahr auszusetzen“, berichtet die Beigeordnete. Gerade mal ein halbes Dutzend der 37 Viersener Kitas öffnet – nicht mal zwei Prozent aller Viersener Kita-Kinder nutzt die Notbetreuung am 16. März.
Eva Becker leitet seit 18 Jahren die städtische Kita an der Anne-Frank-Straße in Süchteln, hat in dieser Zeit viel erlebt – den schrittweisen Ausbau zur Ganztagsbetreuung, die Erweiterung für Kinder unter drei Jahren. Doch das ist alles nichts gegen diese absurde Neuerung, dass sie in diesem März 2020 einen Großteil ihres 15-köpfigen Teams nach Hause schicken muss, weil die Erzieherinnen die ihnen anvertrauten Kinder nicht betreuen dürfen. „Die Kolleginnen mit eigenen Kindern habe ich als erstes ins Homeoffice entsandt“, berichtet sie. Und die eine Kollegin, die aufgrund ihres Alters selbst der Corona-Risikogruppe angehört. Zu dieser Gruppe gehört in Viersen fast jede dritte Erzieherin. Das kann bei der geplanten Öffnung der Kitas noch zu einem Problem werden: Wie sollen sich diese Erzieherinnen schützen? Gesichtsmasken in Kitas? Aus pädagogischer Sicht keine Option, weil Kinder sich an der Mimik der Erwachsenen, insbesondere am Mund orientieren. Und gerade die kleinen Kinder brauchen Körperkontakt, sitzen oft bei den Erzieherinnen auf dem Schoß. Weniger infektiös als Erwachsene sind sie aber nicht, wie eine Studie der Charité ergeben hat.
In Beckers Kita singen die beiden verbliebenen Erzieherinnen der Notgruppe jetzt „Happy Birthday“, obwohl niemand Geburtstag hat. Sie singen es beim Händewaschen mit den drei Kindern, damit die lernen, wie lange man die Finger unter Wasser halten muss. Ist das Lied zu Ende, darf das Wasser abgedreht werden. Die Kinder finden das sehr lustig.
Eine Woche später weitet das Land die Notbetreuung aus. Vom 23. März an haben auch Kinder, bei denen nur ein Elternteil in der kritischen Infrastruktur arbeitet, einen Betreuungsanspruch. Wieder kommt die Verordnung am Freitagnachmittag, wieder muss bis Montagmorgen alles organisiert sein.
Erhöhter Schwierigkeitsgrad diesmal: Jetzt besteht auch ein Recht auf Notbetreuung an den Wochenenden. Die Kitas schreiben ihre Dienstpläne um. Wieder ist es ein arbeitsreiches Wochenende für die Erzieherinnen, die Kita-Leiterinnen und die Mitarbeiter des Fachbereichs Jugend. „Soweit Eltern einen Betreuungsbedarf und Anspruch haben, werden die Kinder in den Einrichtungen betreut, die sie normalerweise besuchen“, erklärt die Beigeordnete Bern. Einige wenige zusätzliche Kinder reichen also aus, damit zahlreiche Kitas wieder hochgefahren werden. Die Betreuungsquote
in Viersen steigt auf drei Prozent.
Sieben bis acht Kinder kommen jetzt täglich in die Anne-Frank-Kita. Beckers Kolleginnen, die von zu Hause aus arbeiten, telefonieren mit den übrigen Eltern und Kindern, sie schreiben eine Karte, wenn ein Kind Geburtstag hat. Erzieherin Tanja Schophoven klärt mit den Vorschulkindern, wie ihre Schultüte aussehen soll. Eigentlich sollten die gemeinsam in der Kita gebastelt werden. Was wird aus der geplanten Übernachtungsparty in der Kita vor den Sommerferien? Was aus der Abschlussfahrt ins Irrland nach Twisteden?
Derweil treibt die Kollegen im Jugendamt ein anderes Thema um: „Kitas und Schulen spielen eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung von Misshandlungen“, sagt Bern. Was ist mit den Kindern, die in schwierigen Verhältnissen groß werden und die unters Betreuungsverbot fallen? Bei denen die Eltern ohnehin Hilfe bei der Erziehung benötigen? Bern entscheidet, dass auch gefährdete Kinder betreut werden sollen, um das Risiko einer Kindeswohlgefährdung zu verkleinern und macht sich gemeinsam mit den Vertretern anderer Kommunen in der wöchentlichen Telefonkonferenz mit den Mitgliedern des Deutschen Städtetags für eine landeseinheitliche Regelung stark.
„Es war in Viersen eine überschaubare Zahl von fünf Fällen“, berichtet die Beigeordnete. „Das war meinem Personal noch zumutbar, da es uns wichtiger war, die betroffenen Kinder zu schützen.“Die Betreuer hätten toll mitgezogen, sagt Bern. „Ich bin richtig stolz, dass wir diese Mammutaufgabe ohne große Diskussionen umsetzen.“
Da die betroffenen Mädchen und Jungen erst nachträglich in die Betreuung aufgenommen werden, bilden die Kitas neue Gruppen, um zusätzliche Kontaktnetzwerke zu vermeiden. „Dass es sich dabei um Kinder handelt, die in Schutzkonzepten sind, haben wir nicht kommuniziert und diese Information bleibt auch in der jeweiligen Einrichtung“, so Bern. Vor den Osterferien kommt die neue Verordnung des Landes – auch Kinder aus Familien, die vom Jugendamt betreut werden, haben nun einen Betreuungsanspruch.
In der Anne-Frank-Kita singen sie jetzt nicht mehr „Happy Birthday“beim Händewaschen. Es ist nicht mehr lustig. Und das Geburtstagslied soll nicht entwertet werden, erklärt Kita-Leiterin Becker. Die Erzieherinnen im Homeoffice schicken Post an die Eltern und Kita-Kinder mit Rezepten und Basteltipps. Und bisweilen kommt auch eines der zu Hause betreuten Kinder vorbei und liefert an der Tür etwas ab. Ein selbst gemaltes Bild. Das wird drinnen in der Kita aufgehängt.
Das Ende der Osterferien am 20. April erlebt Eva Becker als einen Einschnitt. „Viele Eltern haben bis dahin durchgehalten, die Kinder selbst zu betreuen – manche hatten Urlaub genommen“, berichtet sie. „Aber mit dem Ende der Osterferien stieg die Nachfrage nach Betreuung sprunghaft an.“24 Anfragen zählt die Kita in Süchteln. Auch der fünfjährige Finn geht jetzt in die Anne-Frank-Kita.
Mit ein Grund für die sprunghaft gestiegene Nachfrage ist aber auch, dass die weiterführenden Schulen für die Abschlussklassen wieder geöffnet sind, berichtet Bern. Lehrer können sich nicht mehr um die Betreuung ihrer eigenen Kinder kümmern – die Betreuungsquote in Viersens Kitas steigt auf mehr als das Doppelte, klettert von drei auf sieben Prozent.
Zumal die sogenannte Kritis-Liste kontinuierlich ergänzt wird. Das ist das Verzeichnis der Berufsgruppen, die zur „kritischen Infrastruktur“zählen. „Zum 23. April wurden nicht mehr zehn systemrelevante Berufe identifiziert, sondern 29“, erklärt die Beigeordnete. Und vier Tage später, am 27. April, wird die Notbetreuung auch für die Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden
geöffnet. „Das halte ich für eine richtige Entscheidung, da Alleinerziehende es häufig schwerer haben, Beruf und Kinderbetreuung in Einklang zu bringen“, sagt Bern. „Vor allem, wenn die sonst verfügbaren unterstützenden Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu Risikogruppen wegbrechen.“
Wieder fragen die Kindertagesstätten bei den Eltern den Bedarf ab. Ergebnis: Der Betreuungsbedarf liegt jetzt bei 15 Prozent. Doch als am Montag dieser Woche die Kitas dann die Türen öffnen, werden doch nicht so viele Kinder von den Eltern in die Kitas gebracht. „Die Betreuungsquote pendelt derzeit zwischen zehn und zwölf Prozent“, sagt die Beigeordnete. Das bedeutet aber nicht, dass nur zehn bis zwölf Prozent der Kitas geöffnet haben: Von den 37 Kindertagesstätten in Viersen sind derzeit 36 in Betrieb. In ihnen werden aktuell mehr als 200 Mädchen und Jungen betreut, mehr als 30 weitere in den Tagespflegeeinrichtungen. Kommende Woche öffnen die Grundschulen ihre Pforten wieder. Die Viertklässler sollen ab 7. Mai wieder Unterricht bekommen, heißt es aus dem NRW-Schulministerium, die anderen Grundschüler voraussichtlich ab 11. Mai. Bern sagt: „Ich gehe davon aus, dass die Kita-Betreuungsquote dadurch erneut ansteigen wird, da auch Grundschullehrer zu den systemrelevanten Berufen gehören.“
Und auch wenn es noch keine klare Ansage aus dem Familienministerium gibt, wie genau die Notbetreuung in den kommenden Wochen weiter ausgebaut werden soll, treibt Bern eine Sorge um: Personalnot. „Wir haben knappe Personalressourcen, weil ein Drittel der Erzieher zur Risikogruppe zählt. Und der Betreuungsschlüssel bei den Kleingruppen sei deutlich höher. Bern: „Ich wünsche mir bei den künftigen politischen Entscheidungen über die Ausweitung des Betreuungsanspruchs, dass die bestehenden Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden – insbesondere die knappen Personalressourcen.“
In der Anne-Frank-Kita, die in den vergangenen Monaten durch einen Wasserschaden in ihrem Betrieb beeinträchtigt war, wird die Zeit unterdessen genutzt. „Weil noch nicht alle Kinder da sind, kann die Sanierung jetzt in zwei Gruppenräumen gleichzeitig vonstatten gehen statt nur in einem Raum“, berichtet Becker. Aktuell werden die Fußböden in der Nestgruppe und in dem Raum für die Bären- und Spatzengruppe erneuert. Becker freut sich: „Je eher wir fertig werden, desto besser. Zumindest dafür ist Corona gut.“
„Personalressourcen sind knapp, weil ein Drittel der Erzieherinnen zur Risikogruppe zählt“Çigdem Bern Beigeordnete
Stadt Viersen
„Mit dem Ende der Osterferien stieg die Nachfrage nach Betreuung sprunghaft an“
Eva Becker Leiterin der Anne-Frank-Kita