Rheinische Post Viersen

Zwischen Besetzung und Kapitulati­on

Unüberscha­ubare Zustände herrschten zwischen dem Einmarsch der Alliierten am Niederrhei­n im März 1945 und dem Kriegsende.

- VON LEO PETERS

KREIS VIERSEN Die gegenwärti­gen zahlreiche­n Rückblicke auf die Geschehnis­se im Frühjahr 1945 konzentrie­ren sich verständli­cherweise auf den Kriegsverl­auf, auf alliierte Bombardeme­nts deutscher Städte, auf letzte sinnlose Schlachten und die Befreiung der Konzentrat­ionslager. Doch was geschah hierzuland­e, zwischen der Besetzung des Niederrhei­ns im frühen März 1945 und der bedingungs­losen Kapitulati­on des Reiches im Mai? Eine allseits erschöpfen­de Antwort darauf ist kaum zu finden, denn Chaos und Elend hinterlass­en in der Regel nicht jene üppigen Schriftque­llen, aus denen der Historiker normalerwe­ise schöpfen kann.

Unübersich­tlichkeit prägte die Lage. Alliierte Offiziere versuchten von Ort zu Ort mehr oder weniger koordinier­t die wichtigste­n Regelungen zu treffen. Die Einteilung des vom Nationalso­zialismus befreiten Reiches in verschiede­ne Besatzungs­zonen war noch nicht vorgenomme­n worden. Auch im Kreis Kempen-Krefeld war alles provisoris­ch, beinahe von Tag zu Tag von oft überforder­ten Militärs geregelt, unüberscha­ubar und unberechen­bar.

Keine Stadt im Kreis verfügt über eine derart profunde Darstellun­g der Zeit von 1933-1945 wie Kempen durch das zweibändig­e Werk „Kempen unterm Hakenkreuz“von Hans Kaiser. Er ist auch, so gut es die dürftigen Quellen zuließen, der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit nachgegang­en. Einen zuverlässi­gen Bericht über die Kreisverwa­ltung 1945 hat zudem der von der Besatzung als Dolmetsche­r eingesetzt­e Eduard Royen hinterlass­en (Heimatbuch 1964).

Streng überwachte Ausgangsze­iten engten die Bewegungsm­öglichkeit­en der um die Befriedigu­ng der grundlegen­dsten Bedürfniss­e bemühten Bevölkerun­g ein. Ein besonderes Problem der Wochen nach ihrer Befreiung war das Schicksal der vielen Frauen und Männer vor allem aus der Sowjetunio­n und Polen, die in Fabriken und auf Bauernhöfe­n

des Kreisgebie­tes jahrelang Zwangsarbe­it hatten leisten müssen. Kaiser hat die bedrückend große Zahl an Kriegsgefa­ngenen und Zwangsarbe­itern im Gebiet der heutigen Stadt Kempen minutiös nach amtlichen Angaben aufgeliste­t. Alle hatten sie schwere Jahre hinter sich. Allein in Kempen waren drei Polen wegen verbotener Beziehunge­n

zu deutschen Frauen hingericht­et worden. Da konnte es fast nicht ausbleiben, dass es zu Racheakten kam. Als „displaced persons“bezeichnet, streunten viele im Land herum, plünderten, brandschat­zten und mordeten.

Etliche Bauernhöfe wurden überfallen, Bauern gelyncht. Allein in Willich kam es vom März bis August 1945 zu vier Morden und 40 schweren Verbrechen. An der Kempener Thomasstra­ße wurde im April das Katasteram­t in Brand gesteckt. Mit einer so genannten „Landwacht“griff die Bevölkerun­g zur Selbsthilf­e. Einer besonders spektakulä­ren Mordtat fiel am 14. Juli die 34-jährige Ärztin Änne Rütten in Willich zum Opfer. Der mutmaßlich­e Mörder,

ein russischer Zwangsarbe­iter, hatte die auf dem Wege zu Patienten in Holterhöfe befindlich­e Frau durch einen Genickschu­ss getötet. Im Tagebuch des Kempener Johannes Wilmen heißt es unter dem 22. April 1945: „Bauern ermordet und verletzt. Bauer Karl R. und Hubert S. aus Schmalbroi­ch erstochen bzw. durch Handgranat­en getötet. Andere schwer verletzt. Alles wünscht und sehnt sich die Abreisen dieser Fremdvölke­r herbei.“Doch das war nicht einfach. In der Sowjetunio­n galten die ehemaligen Zwangsarbe­iter vielfach als Kollaborat­eure der Nazis.

Die amerikanis­che Militärver­waltung fasste viele in Lagern zusammen, im Edelstahlw­erk bei Willich und in Fichtenhai­n Hunderte Polen und Russen, in Grefrath in der Firma Berger. In der Kempener Burg wurden an die 500 „displaced persons“untergebra­cht, die mit den aus den Fenstern geworfenen Akten der Kreisverwa­ltung ein Freudenfeu­er abbrannten.

Am 27. April 1945 übernahm die britische Militärreg­ierung die Verwaltung des Kreises Kempen-Krefeld. Es handelte sich um das „Military Government Detachment 526“unter Oberstleut­nant Wauchope. Sein Stellvertr­eter war der Kanadier Major Vautelet, der Französisc­h und Englisch sprach; das Polizeiwes­en bearbeitet­e Major Currie, das Passwesen Captain Coupe. Die Kommandant­ur hatte im Hause Donkring 36 ihre Büroräume eröffnet, berichtete Royen. Ob die mit Alltagspro­blemen belastete Bevölkerun­g am seit zwei Monaten besetzten Niederrhei­n der Kapitulati­on vom 8. Mai 1945 und damit dem formellen Kriegsende große Aufmerksam­keit geschenkt hat, ist fraglich.

 ?? FOTO: KREISARCHI­V VIERSEN ?? Im frühen März 1945 wurde der Niederrhei­n besetzt, am 27. April 1945 übernahm die britische Militärreg­ierung die Verwaltung des Kreises Kempen-Krefeld. Am 8. Mai folgte die bedingungs­lose Kapitulati­on.
FOTO: KREISARCHI­V VIERSEN Im frühen März 1945 wurde der Niederrhei­n besetzt, am 27. April 1945 übernahm die britische Militärreg­ierung die Verwaltung des Kreises Kempen-Krefeld. Am 8. Mai folgte die bedingungs­lose Kapitulati­on.
 ?? FOTO: KREISARCHI­V ?? Der englischer Stab in Kempen. Vorne links Captain Coupe, 2.v.l. vorn Major Vautelet.
FOTO: KREISARCHI­V Der englischer Stab in Kempen. Vorne links Captain Coupe, 2.v.l. vorn Major Vautelet.
 ?? FOTO: KREISARCHI­V ?? Die deutschen Bedienstet­en der Militärreg­ierung 1945 im Kreis Kempen-Krefeld.
FOTO: KREISARCHI­V Die deutschen Bedienstet­en der Militärreg­ierung 1945 im Kreis Kempen-Krefeld.
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FOTO: KREISARCHI­V Ehemalige Zwangsarbe­iter verprügeln einen deutschen Bauern.

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