Die Begeisterung Mariens
Das „Magnificat“wurde in der Musikgeschichte oft vertont. Eine prunkvolle Box mit 14 CDs geht auf Reise durch die Jahrhunderte.
DÜSSELDORF Die Muttergottes war keine Plaudertasche. Bescheiden hütete sie von Anfang an das größte Geheimnis und Geschenk für die Menschheit, sie spielte sich nicht auf, sie begriff ihren Part im christlichen Erlösungswerk – und sie war, 33 Jahre später, zur Stelle, als ihr Sohn ans Kreuz geschlagen wurde. Maria, die Bescheidene, begriff sich als spektakuläre Jungfrau, die zum Kinde unter unklarer biologischer oder theologischer Mitwirkung kam.
Nur einmal holte Maria weit aus: im weltberühmten „Magnificat“, dem Lobgesang Mariens aus dem Lukas-Evangelium. Sie stimmt es an, als sie – soeben vom Erzengel Gabriel über ihre baldige Mutterschaft informiert – ihre Cousine Elisabeth
Dieser biblische Text beschreibt sogar eine Revolution
besucht, die gleichsam prominent schwanger ist (mit Johannes dem Täufer). Die Freude bricht sich Bahn, Maria stimmt einen Hymnus an, der alles einschließt: das Gotteslob, die Selbstertüchtigung, die soziale Revolution. Das „Magnificat“ist die Bewusstwerdung Mariens, ein prophetischer Blick in die Zukunft. Vom Kind, das sie unter dem Herzen trägt, ist nicht die Rede.
Das „Magnificat“, damals innerfamiliär im Privaten vorgetragen, hat es weit gebracht. Längst zählt es zu den schillerndsten Texten des Neuen Testaments und wurde vielfältig interpretiert. Es besaß auch theologisch grenzüberschreitende Wucht. Martin Luther, sonst kein marianischer Parteigänger, empfahl: „Es ist billig, dass man dies Lied noch lasse bleiben in der Kirche!“Und Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht.“Es gab aber auch sanften Tadel an Lukas – dass das „Magnificat“nichts anderes sei als eine Reihung beliebter Textstellen aus dem Alten Testament. Sei’s drum: Hier ergeben sie eine Kette aus Utopien, die zum Charme des Augenblicks passt.
Auch die Musikgeschichte hat – von den abendlichen Vespergesängen des gregorianischen Chorals an – reichen Anteil an der Verbreitung dieses Liedes. Kaum könnte man tiefer in diese Materie eindringen als mit der exzellenten, 14 CDs umfassenden Box des Labels Brilliant Classics. Unter dem Motto „Magnificat – The Song of Mary through the ages“reisen wir durch die Musikgeschichte und staunen, wie sehr der Lobgesang
die Komponisten auch übergreifend ökumenisch animiert hat. Die alten Niederländer wie Josquin Desprez oder Adrian Willaert mit ihren fein geäderten Klanglinien. Claudio Monteverdi, der als erster Komponist das Phänomen der Größe und opernhaften Virtuosität in die Musik brachte. Johann Sebastian Bach, der Maria ebenso preist wie den lieben Gott – nämlich mit Pauken und Trompeten. Antonio Vivaldi,
der Maria zu einer wunderbaren venezianischen Erscheinung macht.
Wolfgang Amadeus Mozart integrierte das „Magnificat“schwungvoll in einige seiner Vespern, Felix Mendelssohn Bartholdy gab ihm frühromantisches musikalisches Gedankengut mit, Franz Liszt verdunkelte es, Anton Bruckner veredelte es. Arvo Pärt tauchte es in den Brunnen seiner ebenso einfältigen wie hinreißenden Glöckchen-Technik,
und Krzysztof Penderecki ließ es sogar heulen und wehklagen.
In neueren englischen Kathedral-Musiken werden fette Euter der Harmonien gemolken, seien es die Werke von William Walton, Edward Rubbra oder John Taverner. Eine Kostbarkeit ist das „Magnificat“von Gerald Finzi (1901 bis 1956), das braust und jubelt – und wenn dann die Knäblein des Chors des St. John’s College aus Cambridge in höchste
Höhen klettern, fühlt man sich an lauter Cherubin und Seraphin in weißen Talaren erinnert. Der volkstümliche, gelegentlich sogar schunkelnde und swingende John Rutter darf mit seiner grandios erhebenden Version natürlich nicht fehlen.
Zum Bergungsdienst für Raritäten wird die Box durch die zahllosen weniger bekannten Meister, die sich auf ihre Weise einem ereignisreichen Text nähern und gutbekannte, aber auch exotische Aromen beisteuern. Eine wundervolle Entdeckung ist das „Magnificat“von Einojuhani Rautavaara (1928 bis 2016), der die freie Tonalität mit Clusterklängen überreizt und trotzdem einen individuellen Weg findet, den Text auszudeuten. Was der Finnische Rundfunkchor da an Klangkultur leistet, ist atemberaubend.
So ist die Box mehr als eine fromme Erkundung. Wir reisen mit Maria durch die Musikgeschichte. Es könnte kaum eine bessere Begleitung geben.
Info „Magnificat – The Song of Mary through the ages“; 14 CDs, Brilliant Classics, 40 Euro