Europa vor Gericht
Erstmals hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für unanwendbar erklärt. Ist Karlsruhe verrückt geworden? Vor allem erinnert das EZB-Urteil eindringlich daran, wie fragil die EU ist.
Was ist die Europäische Union? Auf diese schlichte wie komplizierte Frage gibt es Antworten zur Genüge. Ein Zusammenschluss von Nationen, ein Friedensbündnis, eine Wertegemeinschaft. Alles nicht falsch. Vor allem aber ist die Europäische Union eine Projektionsfläche. Für die einen ist sie der Sargnagel der nationalen Autonomie, für die anderen der Schlüssel zur Freiheit. So ist die EU zu einem Wolkenkuckucksheim geworden.
Eine europäische Lösung gilt mittlerweile als Allheilmittel der Politik: keine nationalen Alleingänge! Die EU soll Frieden in der Welt stiften, die globale Rolle der ausfallenden USA einnehmen und die Flüchtlinge aller Länder aufnehmen. Nicht wenige haben der EU schon Allmacht attestiert.
Was ist die Europäische Union? Selbstverständlich hat auch das Bundesverfassungsgericht – dem manche unterstellen, ebenfalls nicht mehr irdisch zu sein – eine Antwort auf diese Frage. Die EU sei ein „Staaten-, Verwaltungs-, Verfassungs- und Rechtsprechungsverbund“. Das klingt nicht nach Allmacht, sondern nach Zentralrat der Fliesentischverleger. Das soll es auch.
Während die Welt gegen eine Pandemie kämpft, hadert Europa mal wieder mit der EU. Warum mussten in Italien Ärzte aus Kuba helfen, warum eilten die Chinesen und die Russen herbei (und die Deutschen nur so zaghaft)? In dieser seltsamen Phase, in der die Europäische Union schon für tot erklärt worden ist, zerstört ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht weitere Träume. Mit dem EZB-Urteil hat das höchste deutsche Gericht das Wolkenkuckucksheim EU niedergerissen.
Der Zweite Senat hat, erstmals in der Geschichte, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) kassiert. Oder eher: in der Luft zerrissen. Der Bielefelder Europarechtler Franz C. Meyer meint sogar, das Gericht habe eine
Atombombe gezündet. Es ist jedenfalls etwas ins Wanken geraten. Dass sich Richter Peter M. Huber, Berichterstatter in dem Verfahren, genötigt sah, zwei Interviews zu dem Urteil zu geben, zeigt, dass auch in Karlsruhe klar ist, welche Stunde geschlagen hat.
Eigentlich hat das Bundesverfassungsgericht über das sogenannte PSPP-Verfahren der Europäischen Zentralbank entschieden. Die EZB kauft seit Jahren Staatsanleihen im Milliardenumfang. Weil die Karlsruher Richter glauben, dass die EZB damit Wirtschaftspolitik betreibt, obwohl ihr Mandat das nicht deckt, haben sie den Fall dem EuGH vorgelegt. Der EuGH befand das Vorgehen der EZB allerdings für unproblematisch, weshalb Karlsruhe, nun ja, die Bombe platzen ließ und selbst entschied.
Das Urteil liest sich wie Korrekturen der Klausur eines unbegabten Jurastudenten. Was der EuGH entschieden hat, sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, es sei „objektiv willkürlich“, schrieb der Zweite Senat. Der EuGH habe deswegen „ultra vires“gehandelt, also seine Kompetenzen überschritten. Herrje!
Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH ist seit Gründung der EU kompliziert. Oft wurde es mit Eitelkeit der Richter begründet, dass sie einander nicht das letzte Wort gönnten. Eitelkeit ist bei den beiden Gerichten sicherlich im Spiel. Wichtiger aber ist, dass beide Gerichte sich durchaus jeweils für das wichtigste halten können. Der EuGH ist Hüter der europäischen Verträge. Und die Nationalstaaten, also auch die nationalen Verfassungsgerichte, sind die Herren der Verträge.
Hüter gegen Herren. Es ist klar, dass das zu Missverständnissen führt, und nun zu einem offenen Eklat zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof. Dieter Grimm, früher Richter in Karlsruhe, sagt: „Beide Gerichte kennen ihre wechselseitigen Standpunkte und beharren auf ihnen seit vielen Jahren.“Das jetzige
Das Urteil liest sich wie Korrekturen der Klausur eines unbegabten Jurastudenten