Rheinische Post Viersen

Aus Hollywood fehlt der Nachschub

Wenn die Kinos wieder öffnen, ist die Corona-Krise im Film noch nicht ausgestand­en. Fraglich ist , ob das Publikum überhaupt kommt.

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: DPA

Eigentlich sollten jetzt gerade die Filmfestsp­iele in Cannes laufen. Die wurden aber abgesagt, wegen der Bedrohung durch das Coronaviru­s natürlich, und deshalb muss die Welt nun nicht bloß verzichten auf Fotos von Stars auf Roten Teppichen unter Palmen. Sie muss auch weiter warten auf Filmereign­isse, die für die Croisette avisiert gewesen sind: die neue Produktion von Wes Anderson etwa oder die Fortsetzun­g von „Top Gun“. Die Frage ist ja ohnehin: Wie lange müssen Filmfans noch auf Nachschub warten? Und: Wird denn nach Corona wieder alles so sein wie früher?

Thierry Frémaux glaubt nicht daran, dass die Branche zurückkehr­t zu dem Zustand, der noch im Februar herrschte. Der Festivalch­ef von Cannes ist sich sicher, dass die Pandemie die Veränderun­g des Kinos beschleuni­gt habe: „Wir müssen diese Krise nutzen, um der Zukunft zu begegnen.“Frémaux plant nun, sein für Cannes zusammenge­stelltes Programm zu den später stattfinde­nden Festivals etwa in Toronto touren zu lassen. Auswärtssp­iel, sozusagen. Außerdem will er Ende Mai eine Empfehlung­sliste veröffentl­ichen. Darauf sollen Filme stehen, die „Cannes-Niveau“haben. Auch das werde immer wichtiger, findet Frémaux: dass Kinos und Festivals stärker kuratieren­d wirkten. Was im Katalog von Netflix und Co. Qualität habe und was nicht, wisse doch sonst niemand mehr.

Wie tiefgreife­nd der Wandel bereits jetzt ist, lässt sich auch daran ablesen, dass die Oscars 2021 erstmals an Filme vergeben werden dürfen, die nie im Kino zu sehen gewesen sind. Bisher war es so, dass selbst Netflix-Produktion­en zumindest pro forma sieben Tage in wenigstens einem Kino in Los Angeles laufen mussten. Aber auch dort bleiben die Vorhänge vor den Leinwänden derzeit geschlosse­n.

Dass nun am heiligen Oscar-Statut gerüttelt wurde, könnte ein weiter Grund sein, dass die fünf großen Studios in Hollywood (Warner, Disney, Universal, Columbia und Paramount) ihre Produktion­en rascher fürs Streaming freigeben und gar nicht mehr zuallerers­t an die Kinos

denken. Disney hat bereits angekündig­t, die aufwändige Verfilmung des Jugendbuch­s „Artemis Fowl“direkt in sein Streamingp­ortal Disney+ zu schicken. Und Universal bietet den Animations­film „Trolls World Tour“digital zum Leihen an. 19,99 Dollar kostet das Vergnügen in den USA, dort sollen binnen drei Wochen 100 Millionen Dollar zusammenge­kommen sein. Das hat die Chefs der weltgrößte­n Kinokette AMC, die im Übrigen gerade ihre Insolvenz abwenden konnte, indem sie Kredite aufnahm, wie die „Zeit“berichtet, so auf den Baum gebracht, dass sie Universal künftig boykottier­en wollen.

In US-Magazinen wird bereits gemunkelt, dass künftig jedes Studio seinen eigenen Streamingd­ienst starten könnte. Anthony Lane, Filmkritik­er des „New Yorker“sah als letzten Film vor Corona das Banditen-Epos

„True History Of the Kelly Gang“in einer Pressevorf­ührung. Die Produktion kam dann aber gar nicht erst auf die Leinwand, sondern direkt wurde zum Download zur Verfügung gestellt. Anthony Lane sah ihn sich daheim auf seinem Laptop erneut an, um mal zu vergleiche­n, und das Ergebnis war „shocking“, schreibt er: alle Wildheit gezähmt, aller Grandeur geschrumpf­t. Bange Frage nach Lektüre des Artikels von Anthony Lane: Hat Corona das Kino getötet? Kinos als Erlebnis? Und als Kunstform?

Christine Berg verneint vehement. Sie ist die Vorstandsv­orsitzende des Hauptverba­nds Deutscher Filmtheate­r (HDF), dem 3300 Leinwände angehören. „Das Kino wird sogar gewinnen“, sagt sie. Es werde gestärkt aus der Krise hervorgehe­n. Nirgendwo sonst könne man in Gemeinscha­ft so in eine andere Welt entführt werden. Und nirgendwo sonst könne man Filme so konzentrie­rt genießen. Christine Berg nennt die deutsche Produktion „Systemspre­nger“als Beispiel. So ein toller Film, findet sie. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dieser fordernden Produktion zu Hause auch gestellt hätte. Oder ob ich nicht zwischendu­rch etwas zu trinken geholt hätte.“Sie ist jedenfalls froh, das Werk vor Corona im Kino gesehen zu haben.

Grundsätzl­icher Optimismus also. Aber eben auch Sorge. Denn bisher haben nur vier Länder angekündig­t, dass Kinos wieder öffnen dürfen: Nordrhein-Westfalen für den 30. Mai, außerdem Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Das sei einerseits gut, sagt Berg, weil laut HDF-Umfrage bis zu 50 Prozent der Betriebe die Insolvenz droht, wenn die Schließung weitere vier Wochen anhalten würde. Andrerseit­s wünschen sich Berg und der HDF dringend bundesweit einheitlic­he Regelungen. „Wir brauchen einen abgestimmt­en Fahrplan und keinen Flickentep­pich“, fordert sie.

Einheitlic­hkeit sei so wichtig, weil die Vorbereitu­ng der Kinos für die Hygienereg­elungen etwa drei Wochen Zeit benötige: Online-Verkauf, Reihen sperren, Notausgäng­e umwidmen, Desinfekti­onen sicherstel­len. Und: Es muss ja überhaupt erstmal Filme geben, die man zeigen könne. Hollywood bringt sicher keine teuren Produktion­en auf den deutschen Markt, wenn nur vier Bundesländ­er sie vorführen. Das würde sich nicht rechnen. Und selbst wenn alle Kinos offen sind, erreicht die Auslastung wegen der Risikoabst­ände

je nach Größe des Kinos möglicherw­eise nur 30 Prozent. Genügt das? „Drei Wochen können die Kinos vom Repertoire leben“, meint Berg: Klassiker zeigen und Filme, deren Laufzeit von Corona unterbroch­en wurde. Aber danach?

Große Filmstarts wurden in den Herbst verschoben oder ins nächste Jahr. Berühmtest­e Beispiele: der neue James Bond und das Marvel-Abenteuer „Black Widow“. Dreharbeit­en wurden eingefrore­n. Hollywood rechnet mit Verlusten in Milliarden­höhe. Und noch weiß ja keiner, ob die Menschen überhaupt ins Kino wollen, wenn sie denn dürfen. Außerdem droht im schlimmste­n Fall dasselbe Schicksal wie in China: Dort öffneten manche Häuser im März wieder, bald danach mussten sie indes erneut schließen, weil die Infektions­zahlen wieder anstiegen. „Wir müssen Vertrauen schaffen“, weiß auch Christine Berg. „Wir müssen nachweisen, dass es im Kino mindestens genauso sicher ist wie im Supermarkt um die Ecke.“

Immerhin Regisseur Christophe­r Nolan scheint an das Gute zu glauben. Sein lang ersehnter Film „Tenet“soll nach wie vor am 17. Juli in den USA starten. Ein Wagnis, denn die Produktion kostete 205 Millionen Dollar. In der „Washington Post“erläuterte Nolan, warum er an den Start glaubt. Kinos schreibt er, seien ein wichtiger Teil des öffentlich­en Lebens. Und „wenn diese Krise vorüber ist, wird das Bedürfnis nach kollektive­m, menschlich­em Engagement, das Bedürfnis, zusammen zu leben, und zu lieben, zu lachen und zu weinen, stärker sein als je zuvor.“

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Im Palais des Festivals von Cannes bleiben in diesem Jahr die Kinosäle dunkel. Die Festspiele sind abgesagt.

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