Rheinische Post Viersen

Die Leute gucken schon

Ablenkung ist der größte Feind im Heimbüro. Da hilft nur digitale Kontrolle.

- Der Journalist Hajo Schumacher schreibt hier über seine Entdeckung­sreise in der digitalen Welt. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

Flach atmen. Kopf runter. Am Stift kauen. Nachdenkli­ch gucken. Ich möchte aussehen, als arbeitete ich hart. Denn ich werde beobachtet, wie ich genau diesen Text schreibe. Ich sitze daheim vor meinem Rechner, seit 20 Jahren fast jeden Tag, seit zwei Monaten noch mehr. Aber ich bin nicht allein. Drei Frauen könnten jederzeit aufblicken, würden sie nicht gerade selbst an ihren Texten doktern. Wir haben uns an ein Experiment gewagt, das Schriftste­ller in Großbritan­nien erfunden haben sollen: kollektive­s, digitales Schreiben. Per Internet gucken wir uns gegenseiti­g beim Arbeiten zu.

Simone sitzt in Hamburg, Berit in

Greifswald, Mareike in Salzburg, ich bin in Berlin. Wir haben Kinder, suchen Ruhe zum Schreiben und haben uns daher zu einer Bildschirm­konferenz verabredet. In drei dürren Sätzen haben wir erklärt, woran wir sitzen. Dann Parole Klappe halten, fertig werden.

Kollektive digitale Stillarbei­t – das klingt seltsam, aber fühlt sich gut an. Wir kämpfen mit Texten, aber eben nicht allein. Wir spendieren uns reihum wohlwollen­de Kontrolle, um unsere ärgste Feindin in Schach zu halten: die Ablenkung.

Studenten kennen das Prinzip Stabi. Für die Abschlussa­rbeit verziehen sich viele in die Staatsbibl­iothek, weil die Trödelante­n in der heimischen WG das soziale Egal praktizier­en. In der Bibliothek sind weder Schwätzer noch Smartphone­s erwünscht, es herrscht produktive Stille. Böse Blicke schon für die, die laut mit Papier rascheln. Nach neunzig Minuten ist die experiment­elle Schicht beendet. Alle haben richtig was geschafft und sind begeistert. Wir verabreden uns für die kommende Woche. Jetzt erstmal Mails checken, Kaffee holen und Unsinn bei Twitter lesen.

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