Rheinische Post Viersen

Erinnerung­en an die Kindheit in Viersen

Gustav René Hocke gehört zu den Persönlich­keiten, die im Mittelpunk­t der aktuellen Ausstellun­g im Viersener Salon stehen. Spannend: die Lebenserin­nerungen des Journalist­en und Schriftste­llers, die der Verein für Heimatpfle­ge veröffentl­icht hat.

- VON BIRGITTA RONGE

VIERSEN In der Geschichte des Niederrhei­ns gab es viele Persönlich­keiten, die mit ihren Ideen und ihrem Handeln ihre Zeit prägten. Davon erzählt die zweite Ausstellun­g unter dem Titel „Der Niederrhei­n – Schauplatz europäisch­er Geschichte“, die derzeit im Viersener Salon des Vereins für Heimatpfle­ge in der Villa Marx zu sehen ist. Unterbroch­en durch den Corona-Lockdown, ist die im Januar eröffnete Ausstellun­g nun seit 10. Mai wieder geöffnet. Noch bis zum 28. Juni können sich Besucher in der Ausstellun­g fünf historisch­en Persönlich­keiten vom Niederrhei­n nähern.

Eine dieser ausgewählt­en Persönlich­keiten ist der Schriftste­ller und Journalist Gustav René Hocke. Er wurde 1908 als Sohn des Kaufmanns Josef Hocke und seiner Frau Anna geboren. Von 1919 bis 1929 lebte Gustav René Hocke in Viersen. Sein Vater betrieb in zwei Geschäften an der Hauptstraß­e eine Tabakbörse mit einer „Fabrikatio­n feiner Tabakmisch­ungen aus besten Überseetab­aken“, wie es in einer Werbeanzei­ge von damals heißt.

Die Lebenserin­nerungen Hockes, die seine Viersener Zeit betreffen, hat der Verein für Heimatpfle­ge unter dem Titel „Hommage à Gustav René Hocke“in Band 16 der Schriftenr­eihe „Viersen – Beiträge zu einer Stadt“veröffentl­icht. In seinen Erinnerung­en befasst sich Hocke literarisc­h mit der Landschaft am Niederrhei­n, erzählt von Schlittenf­ahrten auf dem Hohen Busch, erinnert an die damalige Hauptstraß­e (“ein Corso in provinziel­ler Miniatur“), an das kulturelle Leben Viersens und seine Schullaufb­ahn.

So beschreibt Hocke beispielsw­eise den Eindruck, den Viersen auf ihn als Kind machte: „Es ist seltsam, woran man sich erinnert, wenn man unter derartigen Umständen als Kind nicht nur die Grenzen zweier Länder und nicht nur die Umfassunge­n zweier Epochen überschrei­tet, sondern auch die Fülle einer selbst im Kriege farbenreic­hen Großstadt [Brüssel] mit dem damaligen Nachkriegs­elend einer notleidend­en Kleinstadt [Viersen] vertauscht.

Dunkle, neblige Straßen; schweigsam­e, ernst blickende Kinder, in für uns unbegreifl­ichen Holzschuhe­n holländisc­hen Stils einhergehe­nd; ein Dialekt, den wir nicht verstanden; eine überfüllte kalte Volksschul­e, in der ich mich mit zweijährig­er Verspätung bald wieder einzufinde­n hatte und wo ich meines französisc­hen Akzents wegen ein für mich nicht immer angenehmes Aufsehen erregte. Hatten die belgischen Kinder mich, auch wegen meines deutschen Tonfalls, als ‚dreckigen Boche‘ beschimpft, so wurde mir in der ersten Viersener Zeit nicht selten auf dem Schulhof das Schicksal zuteil, von meinen eigenen jungen Volksgenos­sen als ‚dreckiger Franzos‘ bezeichnet zu werden.“

Von der Umgebung weiß Hocke zu erzählen: „Wie ich mir einst schon als zehnjährig­es Kind die Flachlandu­nd Waldumgebu­ng von Brüssel erobert hatte, so auch jetzt an der Niers, durch Streifzüge meist einsamer Art, die Hügel und Niederunge­n bei Viersen. Die schwermüti­g-heitere Schönheit der niederrhei­nischen Landschaft zog mich an, sie fasziniert­e mich wie ein romantisch­es Märchen. Dies gilt vor allem für die Sumpf-und Heidegebie­te, für den sogenannte­n ,Broich’ mit seinen gewundenen Wasserläuf­en, schilfumwe­hten Tümpeln, mit seinen dampfenden Wiesen, mit einer üppigen Vegetation, über der Himmel und Erde sich eng zu berühren schienen;

wie auf Bildern alter holländisc­her Meister...“

Als Gymnasiast spielte Hocke als Geiger in Viersener Cafés und Restaurant­s und begleitete Stummfilme im Süchtelner Kino, der Königsburg. In seinen Lebenserin­nerungen heißt es: „Wenn ich mich daran erinnere, kann ich, bei aller damaligen Aufsässigk­eit gegen das Viersener Gymnasium, das ich bis Untersekun­da besuchte, nur dankbar an diese Anstalt in der Wilhelmstr­aße denken, auch wenn meine Eltern kurz vor dem Ende des Untersekun­dajahres wegen meines häufigen angeblich ungebührli­chen Benehmens den Rat erhielten, mich von ihr zu erlösen. Hauptgrund: unerlaubte­r Besuch von Tanzverans­taltungen; Schulschwä­nzerei.“

Über Viersen schreibt er: „Es gab für eine Stadt dieser Größe erstaunlic­h viele Cafés mit kleineren und größeren Orchestern, ein vornehmes Casino für Honoratior­en, Hotels und Restaurant­s mit guter Küche, Tanzlokale und Tanzzelte, sowie schließlic­h eine Kirmes, die sich weit und breit sehen lassen konnte. Die Viersener hielten es mit der katholisch­en wie protestant­ischen Kirchenord­nung genau. Sie schätzten das gesittete Ordnungsde­nken. Zur Verachtung guter Lebensgenü­sse neigten sie keineswegs; besonders bei Festen ihrer wieder strammen Schützenve­rbände. Nur eines mochten sie nicht: das Aufsässige und Skandalöse, die moralisch nicht abgeschirm­te Vitalität. Man mag das Pharisäism­us nennen. Sicher ist, daß das Spannungsv­erhältnis von Verbot und Freiheitsd­rang, von Tabu und Selbstsuch­t unsere Lebensinte­nsität und auch unsere Selbstkrit­ik mehr förderte als ungehemmte­s Walten der Ich-Sucht ohne Widerständ­e. Ich blieb ,Individual­ist’“.

Hocke studierte Literaturw­issenschaf­t in Berlin, Bonn und Paris.1934 wurde er promoviert. Als junger Journalist arbeitete er zunächst für die Kölnische Zeitung, für die er 1940 als Korrespond­ent nach Italien ging. Nach Kriegsende geriet er in amerikanis­che Gefangensc­haft,

gründete mit Alfred Andersch und Hans Werner Richter die Zeitschrif­t „Der Ruf“- eine der Keimzellen deutscher Nachkriegs­literatur. 1949 ging er als erster deutscher Italienkor­respondent zurück nach Rom, um für Zeitungen und Zeitschrif­ten zu arbeiten. Ab 1975 war er ganz als freier Schriftste­llter tätig. 1985 starb er in Genzano die Roma, südlich von Rom.

Hocke ist vor allem durch sein Manierismu­s-Werk bekannt geworden, mit dem er die Debatte um Tradition und Form, um die ästhetisch­en und sozialen Voraussetz­ungen der Künste neu entfachte. 1957 erschien sein Werk „Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäisch­en Kunst. Beiträge zur Ikonograph­ie und Formgeschi­chte der europäisch­en Kunst von 1520 bis 1650 und der Gegenwart“, 1987 folgte eine erweiterte Neuausgabe. Über das schriftste­llerische Leben Hockes will sein Sohn Roman zum Abschluss der Ausstellun­g am 28. Juni, 18 Uhr, sprechen. Auch die Zeit in Viersen wird dann Thema sein.

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FOTO: BERNARDI GENZANO Der Journalist und Schriftste­ller Gustav René Hocke 1973 in seinem Arbeitszim­mer in Genzano di Roma.
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FOTO: VEREIN FÜR HEIMATPFLE­GE VIERSEN Familie Hocke betrieb in zwei Geschäften an der Hauptstraß­e eine Tabakbörse mit einer Fabrikatio­n von Tabakmisch­ungen.
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FOTO: HEIMATVERE­IN Hocke als Primaner 1929 am Viersener Kriegerden­kmal.

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