Was für eine Spielzeit-Eröffnung!
Schuberts Winterreise und Nick Cave? Charly Hübner beeindruckte mit einem schön düsteren Abend in der Festhalle.
VIERSEN 460 Hände klatschen paarweise aneinander. Der Applaus in der Festhalle ist laut und lang anhaltend. Jubelpfiffe gellen aus dem Publikum, schnellen in Richtung Bühne. Die Gäste stehen auf, applaudieren noch immer, seit Minuten schon, fallen in ein rhythmisches Stakkato, dann zerfließt es wieder zum Dauerapplaus. Am Anfang verneigt sich Charly Hübner. Dann, als er die Dynamik dieses Viersener Festhallenapplauses erkennt, umspielt ein dankbares Lächeln seine Lippen. Noch immer hält der Applaus an. Was tun? Hübner läuft zum Mann hinterm Schlagzeug, deutet auf Andreas Haberl. Der laute Applaus wird noch lauter. Hübner deutet mit großer Geste auf Kalle Kalima an der E-Gitarre; erneut erreicht der Applaus einen neuen Höchstwert. Die nächste Geste, der nächste Begeisterungssturm gilt dem Kontrabassisten Carlos Bica. Eine Frau reicht Hübner einen Blumenstrauß auf die Bühne. Der dankt mit einem koketten mädchenhaften Knicks und einem schelmischen Grinsen. Da sind längst die Lichter im Saal an, doch noch immer applaudiert das Publikum dankbar – und die Künstler, sie baden in diesem Applaus, machen deutlich: Die Dankbarkeit beruht auf Gegenseitigkeit.
Später, im Ernst-Klusen-Saal, wo die Gäste die Spielzeit-Eröffnung mit dem Rotkäppchenmenü Kuchen und Rotwein (und Sekt) feiern, wird Hübner, seiner braunen Bühnenlederschuhe ledig und mit weißen Sneakern an den Füßen, erklären, dass er noch nie in Viersen war. Aber gerne wiederkommen werde. Und dass die 19 Musiker, nachdem sie dann nach einer wunderschönen halben Ewigkeit doch noch von der Bühne kamen, sich erstmal „High Fives“gegeben hätten angesichts dieses grandiosen Viersener Applauses.
Was für eine Spielzeit-Eröffnung! Petra Barabasch, Chefin der Viersener Kulturabteilung, hat mit dem Auftakt viel gewagt – und gewonnen. Denn Schuberts Liederzyklus „Winterreise“mit Songs von Post-PunkSänger Nick Cave zu kombinieren, das ist zwar hochgradig reizvoll, aber auch ziemlich ambitioniert. In Salzburg saß Charly Hübner, den viele TV-Zuschauer als Kommissar Bukow aus dem Rostocker „Polizeiruf 110“kennen, vor drei Jahren, als die Anfrage kam, was zu den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern zu machen. „Am liebsten würde ich was Depressives machen, was mit Verzweiflung, Schuld, Hoffnungslosigkeit“, habe er damals gesagt, „etwas von Schubert oder Nick Cave“. Und Tobias Rempe vom Kammerorchester Ensemble Resonanz erinnert sich, dass er nur die Frage gestellt habe: „Warum denn oder?“
Denn natürlich passen der Romantiker Schubert und der Romantiker Cave ganz hervorragend zusammen – weiß der gnadenlose Henker, warum Jahrhunderte die beiden trennten. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“– mit diesen Versen beginnt die Winterreise, und im Laufe der Lieder begleitet der Zuhörer den Wanderer, der nach einem unglücklichen Liebeserlebnis ohne Ziel und Hoffnung hinaus in die Winternacht zieht. Ja, das Leben kann gemein sein. Hübner aber schafft es, diesen Schmerz noch ins nun wirklich Unaushaltbare zu steigern – indem er einen Schuldigen für diese Tristesse findet. Und zwar in Nick Caves Song „Where the wild roses grow“– der die Geschichte von dem Mann erzählt, der seine Liebste erschlägt, weil er ihre Schönheit nicht aushält. Der Winterreisende hat sein Schicksal selbst gewählt.
Ein schwarzer Schatten nur ist Hübner zu Beginn dieses Abends auf der Bühne, in seinem anthrazitfarbenen Anzug, spärlichst von hinten beleuchtet. Das Publikum ahnt ihn nur, und das erste Geräusch ist schlicht sein seufzender Atem. „Sie kamen in mein Haus, nahmen mich mit, brachten mich in einen Todestrakt. Mich, der ich doch unschuldig bin“, sagt er – der Text ist angelehnt an Nick Caves Song „Mercy Seat“ („Gnadenthron“), der dem Abend seinen Titel gab.
Wäre dieser Abend eine Orgel, so könnte man sagen: Hübner und das Ensemble Resonanz haben alle Register gezogen. Da zupft Kalle Kalima die Saiten seiner E-Gitarre, und heraus perlen Töne wie Wassertropfen ins Verlies des Todgeweihten. Später wird sie auch als Harfenersatz dienen. Und Hübner schafft es in Schubertscher Tradition, einem Satz durch einen Oktavwechsel eine ganz andere Bedeutung zu verleihen: „An dich hab’ ich gedacht“, singt er heiter-hell, und es klingt so freundlich. Doch dann, eine Oktav tiefer, ist diese Aussage nur noch als Drohung zu verstehen. Und auch die Musiker oszillieren zwischen Schubertscher Romantik und Dark-Wave, Komponist Tobias Schwencke hat tolle Arbeit geleistet. „I like the Shit“(„Ich liebe den Scheiß“), soll Nick Cave gesagt haben, als er seine Zustimmung zur Aufführung gab. Recht hat der Mann!