Die Chefanklägerin
Für seine Doku „I am Greta“hat der Schwede Nathan Grossmann die Aktivistin Greta Thunberg mehr als ein Jahr lang begleitet.
Am 20. August 2018 setzt sich ein 15-jähriges Mädchen vor das schwedische Parlamentsgebäude, packt seine Trinkflasche aus und stellt ein Schild neben sich: „Skolstrejk för Klimatet“(Schulstreik für das Klima) steht da in großen Lettern. Anfangs verringern die Passanten nur kurz ihre Gehgeschwindigkeit. Eine alte Dame bleibt schließlich stehen und versucht das Mädchen davon zu überzeugen, dass, wer politisch etwas erreichen will, erst einmal zur Schule gehen muss. Aber die einsame Demonstrantin lässt sich nicht von ihren Vorhaben abbringen. Sie weiß: Ihr Anliegen duldet keinen Aufschub und verlangt Beharrlichkeit.
Ein Jahr später ist aus der unscheinbaren Ein-Personen-Demo eine internationale Protestbewegung gewachsen, die sieben Millionen Menschen auf die Straße bringt. Und dieses Mädchen namens Greta Thunberg ist deren Ikone. In seiner Dokumentation „I am Greta“begleitet der schwedische Filmemacher Nathan Grossmann sie durch dieses Jahr, das – wie die Protagonistin am Anfang aus dem Off erklärt – sich für sie wie ein Film mit einer sehr unwahrscheinlichen Handlung angefühlt hat.
Grossmann hat Thunbergs Familie über Freunde kennengelernt und sich im August 2018 einfach einmal für zwei Tage mit der Kamera zu ihr vor den Reichstag in Stockholm gesetzt. Daraus ist ein zweijähriges Filmprojekt entstanden, das sich als Porträt ganz nah an der weltbekannten Jugendlichen bewegt, aber auch die rasante Entstehungsgeschichte einer politischen Bewegung vorführt. Jede Generation bringt ihre eigene Rebellion hervor.
Die 68er hatten ihre Studentenrevolte, die sich gegen Vietnamkrieg und Engstirnigkeit ihrer Zeit stemmte. In den 80ern war es die Anti-AKWund Friedensbewegung, die gegen Super-Gau, Wettrüsten und den drohenden Dritten Weltkrieg auf die Straße gingen. Die Millennium-Generation versuchte mit ihren Demonstrationen den Einmarsch in den Irak zu verhindern. All diesen Protestbewegungen lag immer auch ein Generationskonflikt zugrunde, in dem die Jungen um eine lebenswerte Zukunft kämpften, um die sie sich durch das alte, politische Establishment betrogen fühlten.
Dieser Konflikt tritt bei den Aktivitäten von „Fridays for Future“noch sehr viel deutlicher hervor. Denn bei den Klimademos geht es um nicht weniger als die Zerstörung des Planeten durch den Menschen und die Unfähigkeit der internationalen Politik, dies zu verhindern. Auf der Anklagebank: die Boomer-Generation mit ihrem Glauben an das ewige Wirtschaftswachstum; und Greta Thunberg ist die Chefanklägererin, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Grossmanns Dokumentation zeigt noch einmal ihre Reden, von der UN-Klimakonferenz in Kattowitz im Dezember 2018 bis hin zu Gretas legendärem Auftritt vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im September 2019.
Und es ist faszinierend zu sehen, wie diese kleine Person Tacheles redet, die Politiker direkt adressiert und eine ganze Generation zur Verantwortung zieht. In einer Welt, in der viel um den heißen Brei geredet wird und das Rauschen der sozialen Medien alles zu übertönen scheint, hat sich Thunberg mit ihrer unumwundenen Klarheit durchgesetzt.
Aber woher nimmt das Mädchen diesen Mut und diese Kraft? Dieser Kernfrage geht „I am Greta“unterschwellig nach und schafft es, eine Nähe zu seiner Protagonistin herzustellen, wie sie in den zahllosen Medienberichten bisher nicht zu sehen war. Grossmann begleitet Greta und ihren Vater auf den Reisen kreuz und quer durch Europa und schließlich sogar auf dem Segelboot über den Atlantik. Es sind respektvolle, private Einblicke in das Familienleben und hinter die Kulissen ihrer politischen Aktivitäten. Vom schrillen Lachen über die Fotos bei der Papst-Audienz bis zur Verzweiflung während der Atlantiküberquerung wird hier das Bild der ernsten Klimaaktivistin aufgeweicht.
Dazu gehört vor allem auch ihr offener Umgang mit der eigenen autistischen Störung. „Sie leiden an Asperger?“, fragt einmal ein italienischer TV-Moderator. „Ich habe Asperger“. korrigiert Greta ihn. Denn Thunberg weiß um die positiven wie negativen Aspekte des Syndroms. Drei Jahre lang lebte sie in einer tiefen Depression und sprach nur noch mit der Familie. Auch durch ihre Beschäftigung mit dem Klimawandel und dem starken Bedürfnis, dagegen vorzugehen, fand sie aus diesem Tief heraus.
Denn zum Asperger-Syndrom gehört in ihrem Fall auch die Fähigkeit zur Fokussierung und schnellen Aufnahme von Informationen. Die Klarheit ihrer Reden, an denen sie mit großem Perfektionismus feilt, aber auch das Vermögen, sich nicht von den schönen, leeren Worten der Politiker einseifen zu lassen, sind untrennbar mit der Anomalie verbunden. Da kann sich ein Emmanuel Macron im Small-Talk schon einmal die Zähne ausbeißen.
Gleichzeitig zeigt der Film „I am Greta“auch deutlich, welche enorme Leistung es für Thunberg bedeutet, trotz dieser Beeinträchtigung derart stark im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Dazu gehören die Freundschaften mit anderen Aktivistinnen genauso wie der Shitstorm, der in den sozialen Medien, auf Fox-News und in präsidialen Ansprachen von Trump bis Bolsonaro auf sie niederging. Gerade vor dem Hintergrund der enormen, medialen Hetze, der Thunberg ausgesetzt war, erscheint Grossmanns einfühlsame Dokumentation, die erfolgreich den Menschen hinter der Ikone beleuchtet, als notwendiges Gegengift.
I am Greta; Schweden 2020, 97 Minuten, Regie: Nathan Grossmann