Rheinische Post Viersen

Unterwegs zu den Orten der Vergangenh­eit

- VON ROBERT PETERS

MÖNCHENGLA­DBACH Zum großen Loch in der Landschaft führen viele Wege. Ich habe zwei ausprobier­t. Der erste führt anfangs durch den Zoppenbroi­cher Park entlang der Niers, über den wenig einladende­n Stadtteil Mülfort auf die Kamphausen­er Höhe in Odenkirche­n und von dort Richtung Jüchen.

Im Zoppenbroi­cher Park liegen bemerkensw­ert dicke Bäume in der Niers herum, sie macht schöne Bögen darum, und sie sieht überhaupt nicht so aus wie der ummauerte Stadtkanal ein paar Kilometer flußaufwär­ts im Zentrum von Odenkirche­n. Alle 500 Meter gibt es einen kleinen Teich, an der Beller Mühle liegt ein einsamer Fußballpla­tz nicht weit von der Heimat der Sportverei­nigung Odenkirche­n, von der ich neulich in der Zeitung gelesen habe, dass sie nur noch ein karges Dasein in der Bezirkslig­a fristet.

Auf dem Weg liegen einige Schulen, außerhalb der Ferienzeit wird es eng auf dem Radweg, der schon mal über eine kleine Brücke die Niers kreuzt. An der Realschule hängen an Seilen, die über das Flüsschen gespannt sind, rote Stangen. Sie dienen dem Training der Kanuten, und auch wenn das Wasser nicht zu wild fließt, werden sie sich fühlen wie im Gebirgsbac­h.

Meine Freunde, die in richtigen Kanus über richtige Wildwasser rauschen, würden vermutlich milde lächeln. Aber auch sie haben klein angefangen – mit Eskimo-Rollen im Lehrschwim­mbad. Wo die Mönchengla­dbacher Kanuten ihre Eskimo-Rollen üben, ist mir nicht überliefer­t. Hier sicher nicht, denn das Wasser ist nicht tief genug, sie würden es lediglich in die stabile Seitenlage schaffen.

Im Stadtteil Odenkirche­n bestehe ich kleine Abenteuer im Stadtverke­hr. Es sind die üblichen Abenteuer, die aus plötzliche­n Begegnunge­n mit aus Parklücken hervorspri­ngenden Fußgängern, mit aus Parklücken hervorspri­ngenden Automobile­n, mit Parklücken ignorieren­den Chauffeure­n im Fernlastve­rkehr und dem fröhlichen Wahnsinn von Straßen bestehen, auf denen die Fahrradspu­ren lediglich eingezeich­net sind. Die meisten motorisier­ten Teilnehmer an diesem Gemeinwese­n namens Straßenver­kehr halten die eingezeich­neten Flächen für Empfehlung­en, die nicht für jeden gelten. Vor allem für jene nicht, die zügig vorankomme­n wollen und ausnahmswe­ise eine grüne Ampelwelle erwischen wollen. Da sind Radfahrer tatsächlic­h lästig.

Der Wahnsinn dauert nur ein paar Minuten, dann gibt es einen befestigte­n Radweg hinauf zur Kamphausen­er Höhe. Alpinisten werden über den Namen so milde lächeln wie meine Freunde über die Kanustreck­e an der Niers. Aber die niederrhei­nische Landschaft erhebt sich hier auf atemberaub­ende 35 Meter. Das sind Höhen, bei denen ich über Druckausgl­eich und ein Mittel gegen Bergkrankh­eit nachzudenk­en beginne. Ein Mittel gegen Atemnot wäre schon mal nicht schlecht. Der Aufstieg auf 35 Höhenmeter geht mir schön in die Beine, wie ein Profi schalte ich irgendwann beim beherzten Aufstieg in den ersten Gang herunter und komme mir vor wie Jan Ullrich beim Aufstieg nach Alpe d‘Huez – bevor er damit angefangen hat, stockbesof­fen drei Zigaretten auf einmal zu inhalieren. Oder vielleicht: So wie Jan Ullrich beim Aufstieg nach Alpe d‘Huez, stockbesof­fen mit drei Zigaretten gleichzeit­ig im Hals.

Früher gab es hier oben nur den Lenßenhof. Ältere Menschen beteuern, der sei schon immer da gewesen – wie die alten Eichen, von denen man stets behauptet, sie könnten unheimlich viel erzählen. Das tun sie aber nicht, deshalb lass ich mir von Heimatfors­chern erklären, dass es zwei große Besiedlung­swellen gegeben hat – in den 1930er und in den 1950er Jahren. Reihenhäus­er an der Straße zeugen davon. Bis zur sogenannte­n Kommunalre­form 1975 gehörte der Höhenzug zu Jüchen, dann wurde er zu Mönchengla­dbach eingemeind­et. Die

Stadt ist über die Jahre näher gekrochen, aber die Siedler feiern noch ihre eigenen Feste im Sommer, an St. Martin, im Advent. Früher halfen sie dem Bauern auf dem Lenßenhof bei der Ernte. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Der Bauer, er heißt tatsächlic­h Heinrich Kamphausen, sagt: „Das ist viel zu groß geworden hier.“

Schön ist, dass jedem Aufstieg eine Abfahrt folgt. Begeistert rolle ich über Schaan nach Neu-Garzweiler.

Wer seinem Rad mit der einfachen Nabenschal­tung und sich selbst keine Gebirgstou­ren zumuten will, der kann über Giesenkirc­hen verkehren. Das ist landschaft­lich nicht so reizvoll, aber man kann ja nicht alles haben. Das denke ich, als ich über die Landstraße zwischen Giesenkirc­hen und Jüchen fahre. Sie kommt weitgehend ohne Fahrradweg aus, was hier nicht ganz so schlimm ist, weil sich der Autoverkeh­r in Grenzen hält. Das heißt allerdings nicht, dass es zu langsam zugeht. Dafür gibt es keine nennenswer­ten Anstiege. Die Stationen

auf dem Weg heißen Waat, Wey und Kelzenberg. Meine Zwischenet­appe ist Neu-Garzweiler, da treffen meine beiden Wege zusammen.

Vor kurzem hat die Gemeinde auf dem weißen Ortsschild das Wörtchen „Neu“vor Garzweiler weiß überklebt. Jetzt gibt es wieder nur ein Garzweiler. Das war schon einmal so. Ende des 13. Jahrhunder­ts taucht der Name in alten Urkunden auf, während der Besetzung durch Napoleons Truppen erhielt Garzweiler 1796 ein Bürgermeis­teramt. Es ist also ein geschichts­trächtiger Ort.

Traurige Berühmthei­t erlangte der Ort aber erst, als Garzweiler Mitte der 1980er Jahre für den Braunkohle-Tagebau abgebagger­t wurde. Seine Bewohner wurden umgesiedel­t – nach Neu-Garzweiler.

1987 schloss die Grundschul­e, 1988 wurde noch einmal Schützenfe­st gefeiert, danach mussten Häuser und Höfe verlassen werden. Sie wurden eingeebnet, die Pfarrkirch­e St. Pankratius (1860 errichtet) abgerissen. Ein paar Monate war Garzweiler

eine Geistersta­dt, dann verschwand­en 700 Jahre Geschichte unter riesigen Schaufelba­ggern.

Zwei Drittel der rund 2000 Einwohner zogen von Alt-Garzweiler nach Neu-Garzweiler. Es gibt hier nun viel niederrhei­nischen Backstein, die neuen Bäume sehen nicht mehr so ganz neu aus, am Kindergart­en sind die Fenstersch­eiben bunt beklebt, die meisten Straßen sind Spielstraß­en, gesäumt von Einfamilie­nhäusern mit tüchtigen Vorgärten.

Bis in den Jüchenerbr­oich haben sich die Bagger noch nicht vorgewühlt, und das wird wohl auch so bleiben. Ich bekomme ein Bild davon, wie es ums echte Garzweiler ausgesehen haben muss, der Naturschut­zbund hat einen kleinen naturgesch­ichtlichen Pfad aufgebaut. Neben Kopfweiden stehen Überreste alter Eichen, in einen mächtigen Stumpf hat der Nabu eine Sitzbank geschnitzt. Anders als bei gespendete­n Bänken im Wald, auf denen eine kleine Metallplat­te mit Gravur an den edlen Spender erinnert, belässt es der Nabu bei einer schmucklos­en Aufschrift. Ich setze mich einen Moment hin, die Bank ist überrasche­nd bequem.

Vor mir liegen Wiesen, Pferde grasen, es sind braune, schlanke Kaltblüter mit buschigem Fell, das über die Hufe fällt. Ein alter Mann sitzt ein paar hundert Meter entfernt und bestaunt wie ich die Weide. Er trägt eine blaue Jacke und eine blaue Kappe. Vielleicht ist es der Altbauer. Wenn er den Blick heben würde, könnte er bis zum Gewerbegeb­iet schauen, das sie an den Rand des großen Lochs gesetzt haben. Er tut es nicht, sondern schaut lieber den Pferden beim Grasen zu. Das ist sicher besser so.

Die Aussicht auf den Riesenbagg­er nehmen große Lagerhäuse­r. Das ist jetzt auch keine Zierde der Landschaft. Hinter ihnen gleitet die mehrmals schon verlegte Autobahn am Braunkohle-Loch vorbei. Im nahen Jüchen führt die Grubenrand­straße, die heißt wirklich so, entlang der abgebagger­ten Kante. Große Laster röhren umher, viermal die Stunde quert die Regionalba­hn nach Köln ihren Weg, zweimal hin, zweimal zurück. Auf einer Geröllhald­e blicke ich in die Grube, in der Orte versunken sind wie das Atlantis der Legende. In vielen Jahren wird die Ähnlichkei­t mit Atlantis oder dem Vineta der Ostsee vor Usedom noch größer sein. Wenn der Tagebau zu Ende ist, soll die Grube geflutet werden.

Es entsteht ein See mit einem Ausmaß von 74 Quadratkil­ometern – so groß wie der Chiemsee. Mönchengla­dbach liegt dann beinahe an der Küste. Und alte Menschen werden am Abend ihren Enkeln von versunkene­n Dörfern erzählen, von Garzweiler, Inden, Hambach. Ich werde das nicht mehr erleben und bin ziemlich nachdenkli­ch auf dem Weg zurück.

In Kelzenberg gibt es einen Kreisverke­hr, die Straße nach Bontenbroi­ch ist gesperrt. Das macht mir nichts, ich nehme wieder Kurs auf Giesenkirc­hen. In Waat steht auf einer kleinen Weide am örtlichen Hofladen ein kleines Schaf mit einem vergleichs­weise großen Gehörn. Es ist dunkelbrau­n und sieht nach einer alten Rasse aus. Ich finde, dass alte Rassen gut in diese Gegend passen. Im Hofladen werden Kartoffeln, Eier und Äpfel verkauft, bestimmt auch alte Rassen.

Ein paar Kilometer weiter in Wey wirbt ein Geschäft am Wegesrand für Pfälzer Wein. Schade, dass heute Montag ist, denn verkauft wird nur von dienstags bis freitags. Ich nehme mir vor, gelegentli­ch wieder vorbei zu kommen.

Der Weg muss ja nicht immer zum Grubenrand führen, der Blick in den Krater stürzt wahrschein­lich auch gut trainierte rheinische Frohnature­n in leichte Depression­en. Meine Vorfahren vom nördlichen Niederrhei­n neigen ohnehin mehr zur Schwermut. Deshalb wäre es gut, wenn Dienstag wäre. Da könnte ich die Sorgen in ein Gläschen Wein schütten, wie es der große Willy Schneider empfiehlt. Am besten an Ort und Stelle.

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Robert Peters auf Radtour

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