Unterwegs zu den Orten der Vergangenheit
MÖNCHENGLADBACH Zum großen Loch in der Landschaft führen viele Wege. Ich habe zwei ausprobiert. Der erste führt anfangs durch den Zoppenbroicher Park entlang der Niers, über den wenig einladenden Stadtteil Mülfort auf die Kamphausener Höhe in Odenkirchen und von dort Richtung Jüchen.
Im Zoppenbroicher Park liegen bemerkenswert dicke Bäume in der Niers herum, sie macht schöne Bögen darum, und sie sieht überhaupt nicht so aus wie der ummauerte Stadtkanal ein paar Kilometer flußaufwärts im Zentrum von Odenkirchen. Alle 500 Meter gibt es einen kleinen Teich, an der Beller Mühle liegt ein einsamer Fußballplatz nicht weit von der Heimat der Sportvereinigung Odenkirchen, von der ich neulich in der Zeitung gelesen habe, dass sie nur noch ein karges Dasein in der Bezirksliga fristet.
Auf dem Weg liegen einige Schulen, außerhalb der Ferienzeit wird es eng auf dem Radweg, der schon mal über eine kleine Brücke die Niers kreuzt. An der Realschule hängen an Seilen, die über das Flüsschen gespannt sind, rote Stangen. Sie dienen dem Training der Kanuten, und auch wenn das Wasser nicht zu wild fließt, werden sie sich fühlen wie im Gebirgsbach.
Meine Freunde, die in richtigen Kanus über richtige Wildwasser rauschen, würden vermutlich milde lächeln. Aber auch sie haben klein angefangen – mit Eskimo-Rollen im Lehrschwimmbad. Wo die Mönchengladbacher Kanuten ihre Eskimo-Rollen üben, ist mir nicht überliefert. Hier sicher nicht, denn das Wasser ist nicht tief genug, sie würden es lediglich in die stabile Seitenlage schaffen.
Im Stadtteil Odenkirchen bestehe ich kleine Abenteuer im Stadtverkehr. Es sind die üblichen Abenteuer, die aus plötzlichen Begegnungen mit aus Parklücken hervorspringenden Fußgängern, mit aus Parklücken hervorspringenden Automobilen, mit Parklücken ignorierenden Chauffeuren im Fernlastverkehr und dem fröhlichen Wahnsinn von Straßen bestehen, auf denen die Fahrradspuren lediglich eingezeichnet sind. Die meisten motorisierten Teilnehmer an diesem Gemeinwesen namens Straßenverkehr halten die eingezeichneten Flächen für Empfehlungen, die nicht für jeden gelten. Vor allem für jene nicht, die zügig vorankommen wollen und ausnahmsweise eine grüne Ampelwelle erwischen wollen. Da sind Radfahrer tatsächlich lästig.
Der Wahnsinn dauert nur ein paar Minuten, dann gibt es einen befestigten Radweg hinauf zur Kamphausener Höhe. Alpinisten werden über den Namen so milde lächeln wie meine Freunde über die Kanustrecke an der Niers. Aber die niederrheinische Landschaft erhebt sich hier auf atemberaubende 35 Meter. Das sind Höhen, bei denen ich über Druckausgleich und ein Mittel gegen Bergkrankheit nachzudenken beginne. Ein Mittel gegen Atemnot wäre schon mal nicht schlecht. Der Aufstieg auf 35 Höhenmeter geht mir schön in die Beine, wie ein Profi schalte ich irgendwann beim beherzten Aufstieg in den ersten Gang herunter und komme mir vor wie Jan Ullrich beim Aufstieg nach Alpe d‘Huez – bevor er damit angefangen hat, stockbesoffen drei Zigaretten auf einmal zu inhalieren. Oder vielleicht: So wie Jan Ullrich beim Aufstieg nach Alpe d‘Huez, stockbesoffen mit drei Zigaretten gleichzeitig im Hals.
Früher gab es hier oben nur den Lenßenhof. Ältere Menschen beteuern, der sei schon immer da gewesen – wie die alten Eichen, von denen man stets behauptet, sie könnten unheimlich viel erzählen. Das tun sie aber nicht, deshalb lass ich mir von Heimatforschern erklären, dass es zwei große Besiedlungswellen gegeben hat – in den 1930er und in den 1950er Jahren. Reihenhäuser an der Straße zeugen davon. Bis zur sogenannten Kommunalreform 1975 gehörte der Höhenzug zu Jüchen, dann wurde er zu Mönchengladbach eingemeindet. Die
Stadt ist über die Jahre näher gekrochen, aber die Siedler feiern noch ihre eigenen Feste im Sommer, an St. Martin, im Advent. Früher halfen sie dem Bauern auf dem Lenßenhof bei der Ernte. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Der Bauer, er heißt tatsächlich Heinrich Kamphausen, sagt: „Das ist viel zu groß geworden hier.“
Schön ist, dass jedem Aufstieg eine Abfahrt folgt. Begeistert rolle ich über Schaan nach Neu-Garzweiler.
Wer seinem Rad mit der einfachen Nabenschaltung und sich selbst keine Gebirgstouren zumuten will, der kann über Giesenkirchen verkehren. Das ist landschaftlich nicht so reizvoll, aber man kann ja nicht alles haben. Das denke ich, als ich über die Landstraße zwischen Giesenkirchen und Jüchen fahre. Sie kommt weitgehend ohne Fahrradweg aus, was hier nicht ganz so schlimm ist, weil sich der Autoverkehr in Grenzen hält. Das heißt allerdings nicht, dass es zu langsam zugeht. Dafür gibt es keine nennenswerten Anstiege. Die Stationen
auf dem Weg heißen Waat, Wey und Kelzenberg. Meine Zwischenetappe ist Neu-Garzweiler, da treffen meine beiden Wege zusammen.
Vor kurzem hat die Gemeinde auf dem weißen Ortsschild das Wörtchen „Neu“vor Garzweiler weiß überklebt. Jetzt gibt es wieder nur ein Garzweiler. Das war schon einmal so. Ende des 13. Jahrhunderts taucht der Name in alten Urkunden auf, während der Besetzung durch Napoleons Truppen erhielt Garzweiler 1796 ein Bürgermeisteramt. Es ist also ein geschichtsträchtiger Ort.
Traurige Berühmtheit erlangte der Ort aber erst, als Garzweiler Mitte der 1980er Jahre für den Braunkohle-Tagebau abgebaggert wurde. Seine Bewohner wurden umgesiedelt – nach Neu-Garzweiler.
1987 schloss die Grundschule, 1988 wurde noch einmal Schützenfest gefeiert, danach mussten Häuser und Höfe verlassen werden. Sie wurden eingeebnet, die Pfarrkirche St. Pankratius (1860 errichtet) abgerissen. Ein paar Monate war Garzweiler
eine Geisterstadt, dann verschwanden 700 Jahre Geschichte unter riesigen Schaufelbaggern.
Zwei Drittel der rund 2000 Einwohner zogen von Alt-Garzweiler nach Neu-Garzweiler. Es gibt hier nun viel niederrheinischen Backstein, die neuen Bäume sehen nicht mehr so ganz neu aus, am Kindergarten sind die Fensterscheiben bunt beklebt, die meisten Straßen sind Spielstraßen, gesäumt von Einfamilienhäusern mit tüchtigen Vorgärten.
Bis in den Jüchenerbroich haben sich die Bagger noch nicht vorgewühlt, und das wird wohl auch so bleiben. Ich bekomme ein Bild davon, wie es ums echte Garzweiler ausgesehen haben muss, der Naturschutzbund hat einen kleinen naturgeschichtlichen Pfad aufgebaut. Neben Kopfweiden stehen Überreste alter Eichen, in einen mächtigen Stumpf hat der Nabu eine Sitzbank geschnitzt. Anders als bei gespendeten Bänken im Wald, auf denen eine kleine Metallplatte mit Gravur an den edlen Spender erinnert, belässt es der Nabu bei einer schmucklosen Aufschrift. Ich setze mich einen Moment hin, die Bank ist überraschend bequem.
Vor mir liegen Wiesen, Pferde grasen, es sind braune, schlanke Kaltblüter mit buschigem Fell, das über die Hufe fällt. Ein alter Mann sitzt ein paar hundert Meter entfernt und bestaunt wie ich die Weide. Er trägt eine blaue Jacke und eine blaue Kappe. Vielleicht ist es der Altbauer. Wenn er den Blick heben würde, könnte er bis zum Gewerbegebiet schauen, das sie an den Rand des großen Lochs gesetzt haben. Er tut es nicht, sondern schaut lieber den Pferden beim Grasen zu. Das ist sicher besser so.
Die Aussicht auf den Riesenbagger nehmen große Lagerhäuser. Das ist jetzt auch keine Zierde der Landschaft. Hinter ihnen gleitet die mehrmals schon verlegte Autobahn am Braunkohle-Loch vorbei. Im nahen Jüchen führt die Grubenrandstraße, die heißt wirklich so, entlang der abgebaggerten Kante. Große Laster röhren umher, viermal die Stunde quert die Regionalbahn nach Köln ihren Weg, zweimal hin, zweimal zurück. Auf einer Geröllhalde blicke ich in die Grube, in der Orte versunken sind wie das Atlantis der Legende. In vielen Jahren wird die Ähnlichkeit mit Atlantis oder dem Vineta der Ostsee vor Usedom noch größer sein. Wenn der Tagebau zu Ende ist, soll die Grube geflutet werden.
Es entsteht ein See mit einem Ausmaß von 74 Quadratkilometern – so groß wie der Chiemsee. Mönchengladbach liegt dann beinahe an der Küste. Und alte Menschen werden am Abend ihren Enkeln von versunkenen Dörfern erzählen, von Garzweiler, Inden, Hambach. Ich werde das nicht mehr erleben und bin ziemlich nachdenklich auf dem Weg zurück.
In Kelzenberg gibt es einen Kreisverkehr, die Straße nach Bontenbroich ist gesperrt. Das macht mir nichts, ich nehme wieder Kurs auf Giesenkirchen. In Waat steht auf einer kleinen Weide am örtlichen Hofladen ein kleines Schaf mit einem vergleichsweise großen Gehörn. Es ist dunkelbraun und sieht nach einer alten Rasse aus. Ich finde, dass alte Rassen gut in diese Gegend passen. Im Hofladen werden Kartoffeln, Eier und Äpfel verkauft, bestimmt auch alte Rassen.
Ein paar Kilometer weiter in Wey wirbt ein Geschäft am Wegesrand für Pfälzer Wein. Schade, dass heute Montag ist, denn verkauft wird nur von dienstags bis freitags. Ich nehme mir vor, gelegentlich wieder vorbei zu kommen.
Der Weg muss ja nicht immer zum Grubenrand führen, der Blick in den Krater stürzt wahrscheinlich auch gut trainierte rheinische Frohnaturen in leichte Depressionen. Meine Vorfahren vom nördlichen Niederrhein neigen ohnehin mehr zur Schwermut. Deshalb wäre es gut, wenn Dienstag wäre. Da könnte ich die Sorgen in ein Gläschen Wein schütten, wie es der große Willy Schneider empfiehlt. Am besten an Ort und Stelle.