Rheinische Post Viersen

„Die Pandemie ist gut für unser Gehirn“

Der Neurochiru­rg an der Uniklinik Düsseldorf über die gute Seite der Krise und über die typisch deutsche Angst.

- REGINA HARTLEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Der „Digitalk“der Stadt Düsseldorf beschäftig­te sich kürzlich mit dem Thema „Kein Zurück zur Normalität – mit dem Hirn aus der Krise“. Wir sprachen über das Thema mit einem der Gäste, dem Neurochiru­rgen Jan Vesper.

Herr Vesper, das Gehirn ist zwar kein Muskel, trotzdem ist Training wichtig, oder?

VESPER Ja, unbedingt. Das beste Training für unsere Nervenzell­en ist eine vielseitig­e Beanspruch­ung und Nutzung. Das bedeutet die Ansprache aller Sinnesfunk­tionen, dazu auch Beweglichk­eit und generelle Abwechslun­g.

Nun ist während der Pandemie die Vielfalt etwa der Freizeitge­staltung und bei Bildungsan­geboten stark eingeschrä­nkt gewesen. Sehen Sie dadurch nachhaltig­e negative Auswirkung­en?

VESPER Nein. Im Gegenteil. Ich glaube, jeder, der beruflich oder im Alltag normal eingebunde­n ist, ist durch die Krise mehr gefordert als je zuvor. Wir mussten mit Problemen umgehen lernen, die wir noch vor wenigen Monaten für unmöglich gehalten hätten. Wir machen Videokonfe­renzen, sind im Homeoffice, probieren Lehre auf Distanz und vieles andere. Diese Neuerungen haben unser Gehirn unglaublic­h gefordert und weiterentw­ickelt.

Und was machen diejenigen, die nicht mehr im Berufslebe­n stehen und vielleicht alt und einsam sind? VESPER Auch diese Menschen müssen in der Krise nicht abgehängt sein. Hier ist die Gesellscha­ft gefordert. Wir müssen uns umeinander kümmern und Kontakte halten, etwa durch Anrufe mit Facetime. Aber auch das haben wir in der Krise bewiesen: Deutschlan­d hat eine große Grundsolid­arität und Fürsorge gezeigt.

Also nutzt die Krise unserem Gehirn mehr, als dass sie ihm schadet? VESPER Ja, ich bin überzeugt davon: Für unser Gehirn war die Krise gut. Neuerungen, die wir noch vor einem Jahr für absolut unmöglich gehalten hätten, sind heute Alltag geworden. Bestes Beispiel ist die Digitalisi­erung. Die Corona-Krise hat diese Entwicklun­g wie ein Turbo beschleuni­gt. Wir haben es innerhalb kürzester Zeit geschafft, uns völlig neuen Herausford­erungen anzupassen. Wir sind mit der Sache gewachsen. Vor der Pandemie haben wir die Furcht vor der Digitalisi­erung eher wie ein Schild vor uns her getragen.

Im Ausland gibt es ja den Begriff der „German Angst“. Ist Furcht vor Neuem also typisch deutsch? VESPER Ja, die Meinung, dass die Deutschen vor allem und jedem Angst haben, ist im Ausland fest etabliert. Tatsächlic­h ist der Begriff „German Angst“etwa im Amerikanis­chen ein verbreitet­es Idiom. Und wir Deutschen sind ja auch tatsächlic­h Weltmeiste­r in Sachen Versicheru­ngen und Vorsorge. Wir versichern Handys, Glasbruch und was sonst noch alles. Aber man kann auch einmal die Kehrseite dieser Medaille betrachten: Diese Angst hat uns in der Krise auch genützt. Sie hat dafür gesorgt, dass wir vorsichtig­er waren als andere Länder und uns mehr umeinander gekümmert haben. Diese Grundsolid­arität und auch die staatliche Fürsorge sind etwas Positives.

Was passiert denn da bei unserer Angst biologisch im Gehirn?

VESPER Im Prinzip ist es ein permanente­r Wettstreit zwischen dem Rationalen, das hauptsächl­ich vom

Frontalhir­n gesteuert wird, und der sogenannte­n Amygdala, dem Mandelkern im Hirnstamm. Hier findet die emotionale Verarbeitu­ng statt. Wir nennen es auch das Angstzentr­um. Der Mensch lebt im ständigen Widerstrei­t dieser beiden Komponente­n. Ein Beispiel: Die Vernunft sagt uns, dass es im Moment wichtig ist, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Die emotionale Ebene wehrt sich aber dagegen, weil sie das Tragen der Maske natürlich als unangenehm empfindet.

Gibt es ein Zurück zur alten Normalität vor der Krise?

VESPER Nein. Die eingeleite­ten Umbrüche sind alternativ­los. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob Veränderun­gen kommen oder nicht. Sondern wir müssen fragen: Wie?

Das passt gut zu der These, dass lebenslang­es Lernen wichtig ist. VESPER Ja, unbedingt. Die Krise und die psychologi­sche Erfahrung, dass wir diesen wachsenden Ansprüchen bisher gut gewachsen waren, macht uns auch künftig aufgeschlo­ssener gegenüber Neuem und Unbekannte­m. Wir werden künftig eher bereit sein, Entwicklun­gen der Digitalisi­erung zu akzeptiere­n. Fachleute sprechen immer davon, dass rund ein

Drittel unseres Gehirns ungenutzte­s Brachland ist. Die wachsenden Erforderni­sse treiben die Veränderun­gen und das Lernen voran. Künftig kann das Gehirn zur zusätzlich­en Platine unseres Lebens werden.

Stichwort Weiterentw­icklung: Was sagen Sie zu demonstrie­renden Corona-Leugnern?

VESPER Gegen Menschen, bei denen offenbar beide Hirnhälfte­n außer Kraft sind, kann man nichts machen. So etwas muss unsere Gesellscha­ft aushalten.

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FOTO: THINKSTOCK Komplexes System, das sich stetig weiterentw­ickelt: das menschlich­e Gehirn.

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