Rheinische Post Viersen

„Den Menschen Angst zu machen, ist unseriös“

Der Chef der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g mahnt zu Augenmaß bei den Corona-Regeln. Sonst würden die Menschen leichtsinn­ig.

- FOTO: MARCEL KUSCH/DPA KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS INTERVIEW.

BERLIN Andreas Gassen ist in der Corona-Pandemie ein gefragter Gesprächsp­artner. Der Vorsitzend­e der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung hält das Virus für gefährlich – aber er wirft der Politik auch Panikmache vor.

Herr Gassen, wie spiegelt sich die derzeitige Corona-Lage in den Arztpraxen wider?

GASSEN Die Menschen sind vor allem verunsiche­rt. Diese Unsicherhe­it führt zu einem hohen Beratungsa­ufwand für Ärzte. So gibt es durch die in der Vergangenh­eit nicht immer nachvollzi­ehbaren Testansätz­e Unruhe in den Praxen. Patienten wollten getestet werden, bekamen diese Testungen aber nicht sofort. Das führte mitunter zu unnötigen Stresssitu­ationen. Die Praxen sind aktuell noch weniger durch die Behandlung von tatsächlic­h an Covid-19-Erkrankten als durch das Drumherum belastet. Allerdings machen sich Psychiater und Psychother­apeuten Sorgen um das Wohl ihrer Patienten. Depressive Menschen beispielsw­eise reagieren auf bedrohlich­e Szenarien besonders sensibel.

Wen machen Sie für die Verunsiche­rung hauptsächl­ich verantwort­lich?

GASSEN Das grundsätzl­iche Ziel der Kanzlerin, das Coronaviru­s einzudämme­n, ist ja klar und richtig. Aber die Einschätzu­ng, wie man dieses Ziel erreicht, ist nicht unumstritt­en. Als Arzt bin ich über manche Entscheidu­ngen und vor allem über den bedrohlich­en Ton irritiert, der jede Entscheidu­ng begleitet, die nicht durchweg sinnvoll erscheint. So ist mancher Beschluss, den die Ministerpr­äsidentenk­onferenz quasi in Übernahme des Regierungs­handelns fasst, fragwürdig – umso mehr, als die Umsetzung, man könnte fast sagen: Gott sei Dank, dann nicht einheitlic­h erfolgt.

Können Sie ein Beispiel nennen? GASSEN Das Beherbergu­ngsverbot war zum Beispiel ein großer Fehlschlag. Die Regelung war völlig unklar, regional unterschie­dlich und adressiert­e ein Problem, das es eigentlich gar nicht gab. Als Folge bildeten sich lange Schlangen vor manchen Hausarztpr­axen, kerngesund­e Menschen wollten plötzlich getestet werden, um noch in Urlaub fahren zu können. Wir haben unfassbar viel Geld und Kapazitäte­n verbrannt für eine sinnlose Regelung – genau das können Ärzte in der Pandemie nicht gebrauchen.

Fürchten Sie einen Überdruss der Menschen?

GASSEN Wenn man dauerhaft überborden­de Zwänge garniert mit Horrorszen­arien verbreitet, wie es ja das fast schon berüchtigt­e „Hammer & Dance“-Papier des Innenminis­teriums fordert, riskiert man, dass die Menschen es irgendwann leid sind und sich an nichts mehr halten, Gefahren unterschät­zen und leichtsinn­ig werden. Es macht aber sehr viel Sinn, Abstand zu halten, zu lüften, in den richtigen Situatione­n Maske zu tragen und auch die Corona-Warn-App zu installier­en. Aus meiner Sicht ist die App ein sehr sinnvolles, ressourcen­schonendes Mittel, ohne dass dabei Persönlich­keitsrecht­e verletzt werden.

Gehen diese Einschränk­ungen irgendwann zu Ende?

GASSEN Natürlich – aber nicht in den nächsten Wochen. Es ist ein schon noch ein langer Geduldsfad­en nötig, das Virus verschwind­et nicht einfach. Selbst wenn wir in einem Jahr in größerem Umfang einen Impfstoff bekommen und sich viele impfen lassen, muss uns klar sein: Corona wird Teil der Lebensreal­ität werden, die deshalb aber nicht bedrohlich sein wird. Den Menschen jeden Tag Angst zu machen und etwa dem Zwanzigjäh­rigen, der positiv getestet wurde, mit apokalypti­schen Folgen zu drohen oder ihn als Gefährder zu bezeichnen, ist nicht seriös.

Ist die 50er-Regel – also 50 Infizierte auf 100.000 Einwohner in sieben Tagen – sinnvoll?

GASSEN Die Grenze ist willkürlic­h und nicht medizinisc­h begründet, anderersei­ts braucht man politisch irgendeine Grenze, die dann aber mit Augenmaß verwendet werden sollte. Die Vorstellun­g, dass man bei bis zu 49 Menschen nichts unternimmt und ab 51 Infizierte­n in den Lockdown geht, wäre natürlich Unfug und würde die Menschen nicht mitnehmen. Alle Zahlenspie­le und Modellrech­nungen, die uns täglich präsentier­t werden, beruhen auf der Annahme, dass wir ein realistisc­hes Bild über die Zahl der Neuinfekti­onen haben. Aber das haben wir sicher nicht.

Daraus folgt was genau?

GASSEN Die WHO schätzt, dass die Infizierte­n-Zahlen weltweit bis zu zwanzigfac­h unterschät­zt sein könnten. Das gilt für Deutschlan­d sicher so nicht. Doch selbst wenn die Zahlen nur zwei- oder dreifach unterschät­zt sein sollten und in Wahrheit viel höher lägen, wie wahrschein­lich im Frühjahr, relativier­t dies etwa Sterblichk­eit und Klinik-Einweisung­en erheblich. Dazu muss man sagen, dass wir laut Statischem Bundesamt zum jetzigen Stand keine relevante Übersterbl­ichkeit in Deutschlan­d haben. Anders ausgedrück­t: Wir bewegen uns im Rahmen üblicher Schwankung­en.

Sie halten also härtere Maßnahmen für übertriebe­n?

GASSEN Wichtiger als pauschale härtere Maßnahmen ist: Wir müssen die verwundbar­en Gruppen besser schützen. In Kitas und Schulen ist

die Übertragun­g gering, das zeigen die Zahlen aus NRW. Aber erneute Ausbrüche in Pflege- und Altenheime­n sind bedenklich.

Ergibt die neue Teststrate­gie Sinn? GASSEN Anlassbezo­gen zu testen macht Sinn, also in Krankenhäu­sern, in Altenheime­n und Pflegeheim­en. Hier können Schnelltes­ts eine gute Ergänzung sein. Aber anlasslose Tests, zum Beispiel an Autobahnra­ststätten, sind nicht notwendig. Solche Maßnahmen binden Personal, kosten Geld und verschleud­ern Testkapazi­täten. Der Erkenntnis­gewinn ist minimal.

Ist das deutsche Gesundheit­ssystem überlastet?

GASSEN Die Kliniken und Intensivst­ationen sind Stand heute von Überlastun­g weit entfernt. Wir verfügen über genügend Kapazitäte­n. Aber natürlich dürfen wir die Infektions­zahlen nicht ins Uferlose laufen lassen. Mit Millionen Neuinfizie­rten in kurzer Zeit käme auch unser System irgendwann an seine Grenzen. Gesellscha­ft und Politik sollten aber nicht nur auf die Zahl der Neuinfekti­onen schauen. Also nicht panisch werden, wenn die Zahlen ansteigen, nicht zu nachlässig werden, wenn sie runtergehe­n. Andere Faktoren wie Erkrankung­salter, Erkrankung­shäufigkei­t, lokale Kapazität des Gesundheit­swesens müssen zusätzlich berücksich­tigt werden. Die Pandemie wird nicht am Rechenschi­eber beendet. Corona ist keine Bagateller­krankung, aber es ist eben auch nicht Ebola – den Untergang des Abendlande­s zu prophezeie­n und das halbe Land abzuriegel­n, macht meiner Einschätzu­ng nach keinen Sinn und wäre nicht zu rechtferti­gen.

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Eine Ärztin arbeitet auf der Intensivst­ation der Uniklinik in Essen.
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FOTO:TOBIAS SCHWARZ/ DPA Andreas Gassen warnt vor Panikmache.

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