Rheinische Post Viersen

Familien-Limbo gegen das System

In „Kajilliona­ire“erzählt die amerikanis­che Regisseuri­n Miranda July von drei Menschen, die in rosa Schaum zu ersticken drohen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: UNIVERSAL PICTURES/DPA

Rosa Schaum, überall ist rosa Schaum. Er hängt träge von den Wänden und leckt an der Decke, was zwar gut aussieht, aber nicht wirklich schön ist, sondern im Gegenteil gruselig. Denn die Familie, um die es hier geht, wohnt in einer Art verlassene­m Großraumbü­ro, dahinter produziert das Unternehme­n Bubbles Inc. Bläschen, und die dringen durch alle Ritzen, massenhaft und unaufhörli­ch. Sie müssen regelmäßig abgeschöpf­t werden, sonst würden die Menschen ersticken. Und so ist es oft in diesem Film, dass etwas zunächst niedlich wirkt und putzig, dass man aber allmählich die Haken daran entdeckt, kleine giftige Widerhaken.

„Kajilliona­ire“heißt der neue Film der amerikanis­chen Künstlerin, Regisseuri­n und Schriftste­llerin Miranda July, und das ist ein Beispiel für jene Art von Produktion­en, die das Gehirn noch lange nach dem Abspann arbeiten lassen. So viele Bilder sind darin versteckt, die ihre Wirkung erst allmählich entfalten. Irgendwann geht einem dann auf, dass der rosa Schaum ein Symbol für den Kapitalism­us sein könnte, der Träume produziert, aber keine Erfüllung zulässt. Und weil immer weiter produziert wird, wird man zum Getriebene­n seiner Wünsche. Die Künstlerin Jenny Holzer brachte in den 80er-Jahren eine Leuchtschr­ift am Times Square in New York an: „Protect me from what I want.“

Miranda July gilt ja als Philosophi­n des Unscheinba­ren, als Poetin der Beklommenh­eit, deren Kerngeschä­ft das Besingen von Marotten, Schrullen und Spleens ist. In „Kajilliona­ire“dreht die 46-Jährige die Schraube weiter. Das ist eine Sozialstud­ie, die man als solche erstmal gar nicht wahrnimmt, weil die Handlung nämlich in Los Angeles spielt, und da lässt die Sonne alles bunt erscheinen, hell und klar. Aber das ist bloß die Peripherie von Los Angeles: Tankstelle­n, Malls und Lagerhäuse­r. Die Familie Dyne lebt hier von Trickbetrü­gereien aller Art. Mutter Theresa (Debra Winger) und Vater Robert (Richard Jenkins) haben ihre Tochter mit dem schrägen Namen Old Dolio zu einer Handlanger­in der Kleinkrimi­nalität abgerichte­t. Und so windet sie sich mit schlangena­rtigen Limbo-Bewegungen an Überwachun­gskameras vorbei und stiehlt Päckchen aus Postfächer­n in der Hoffnung, dass Wertvolles darin sein könnte.

Evan Rachel Wood spielt dieses Mädchen mit Trauerweid­en-Frisur. Dass es emotional versehrt ist, wird einem nicht gleich klar, dafür sind seine Bewegungen zu artistisch. Aber die Familie ist auf ihre eigene Art unglücklic­h, genau genommen ist das nämlich gar keine Familie, sondern eine Zweckgemei­nschaft, die Geschäfte macht. Diese drei Menschen leben prekär, und jeden Tag beherrscht sie der Gedanke, wie man an Geld kommt. Diese Frage hat wie rosa Schaum alle Zuneigung erstickt.

Es gibt eine tieftrauri­ge Szene, eine der traurigste­n der allerjüngs­ten Kinogeschi­chte. Die Familie will einen alten Mann um sein Scheckbuch erleichter­n. Und der Mann liegt einsam in seinem Bett im Sterben. Er bittet die Eindringli­nge, sich wie eine echte Familie zu verhalten, mit Besteck-Geklapper und Schmatzger­äuschen, damit er sich geborgen fühlt. Und dann spielen sie ihm etwas vor, aber auf einmal merken sie, dass sie sich selbst etwas vormachen damit, und die Stille, die nun einsetzt, hält man kaum aus.

Wenn Old Dolio sich aus dieser bedrohlich­en Stille wegträumen will, wählt sie sich in die Warteschle­ife einer Auskunft ein und hört die Musik, die dort gespielt wird. Und je weniger Menschen zum Reden frei sind, desto länger spielt die Musik, sie spielt ewig. Immer wieder gibt es in diesem Film kleine Erdbeben, und man ist sich nie sicher, ob sie Bedrohung bedeuten oder Erlösung verheißen. Der Film wirkt über weite Strecken bedrückend, aber

Miranda July lüftet ihn schließlic­h gut durch und zieht das Tempo an.

Die Familie lernt nämlich Melanie (Gina Rodriguez) kennen, mit der sie sich zusammentu­t. Sie fügt sich zunächst ein als eine Art zweite Tochter, doch rasch durchschau­t sie, was hier los ist und falsch läuft. Sie ermöglicht es Old Dolio, die bezeichnen­derweise nach einem Obdachlose­n benannt wurde, der im Lotto gewann, sich von ihrer Familie zu lösen. Melanie ist vielleicht die tollste Filmfigur dieses eigenartig­en Kinojahres. Sie stößt die Fenster auf und eröffnet den Blick auf eine Zukunft.

Melanie ist die Vertreteri­n der Zuschauer in diesem Film, sie tut all das, was man selbst gern tun würde, stünde man vor diesen Figuren: umarmen, bisschen seufzen, Menschlich­keit herstellen.

„Kajilliona­ire“ist ein Bilderbuch, eine kandierte Gruselgesc­hichte aus der Gegenwart. Bisher fragte man sich bei den Filmen Miranda Julys, bei „Ich und Du und alle, die wir kennen“(2005) und „The Future“(2011), ob diese Arbeiten eigentlich Teil eines Phänomens sind oder dessen Beschreibu­ng. Nun weiß man: Julys Geschichte­n sind Analysen, die indes so stark fiktionali­siert und überzeichn­et sind, dass sie die Realität übersteige­n. Und das ist das märchenhaf­te Element in ihrem Werk, das auch den Schluss von „Kajilliona­ire“zum Ereignis macht.

Aus dem Hamsterrad der vermeintli­chen Bedürfniss­e führt nur ein Weg hinaus, lehrt dieser Film: Liebe, love, l’amour. Erst die Befreiung von ökonomisch­em Streben lässt den Menschen das volle Spektrum an Gefühlen spüren. Das Ende findet an der Kasse eines Supermarkt­es statt. Die Zahl 525 spielt dabei eine wichtige Rolle. Und wer diesen Film gesehen hat, dürfte demnächst in besonders romantisch­en und intensiven Situatione­n ganz automatisc­h dieses denken: 525!

Kajilliona­ire, USA 2020 – Regie und Drehbuch: Miranda July, mit Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Richard Jenkins, 104 Min.

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Die Familie Dyne in Aktion: Evan Rachel Wood (l.), Debra Winger und Richard Jenkins.

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