„Oeconomia“ist ein Film mit Sprengkraft
Carmen Losmann, Regisseurin von „Work Hard – Play Hard“, fragt beharrlich, wo das Geld herkommt.
Wo kommt das Geld her? Kinder stellen sich vielleicht vor, dass Menschen dafür tief in den Bergen nach Gold graben. Später kommt die Idee auf, dass irgendwo große Druckmaschinen Geldscheine ausspucken und dabei Banken ihre Finger im Spiel haben. Die Dokumentarfilmerin Carmen Losmann zeigt in ihrem neuen, erkenntnisreichen und an vielen Stellen erstaunlich sinnlichen Werk „Oeconomia“, wie heute neues Geld entsteht – und was das für unsere Welt bedeutet.
In einer filmgeschichtlich einzigartigen Szene sehen die Zuschauer den Monitor eines Schweizer Bankmitarbeiters, der in die schmucklose Maske seines Computerprogramms eine Zahl einträgt: 318.000 Franken. Einen Kredit in dieser Höhe will eine Kundin für einen Hauskauf aufnehmen. Der Mitarbeiter drückt die Enter-Taste zur Bestätigung – und schon ist neues Geld in der Welt: Giralgeld, wovon es heute etwa viermal mehr gibt als Bargeld.
Bereits in ihrem vielfach ausgezeichneten Erstling „Work Hard – Play Hard“von 2011 hat sich Losmann der Sphäre der modernen Arbeitswelt gewidmet, die (Selbst-) Ausbeutung des Menschen im Spätkapitalismus und die zugleich lichten, weiten und transparenten wie disziplinierenden und strengen Architekturen
der großen Unternehmen anschaulich gemacht. 2012 bekam sie das Gerd-Ruge-Projektstipendium für den Nachfolgefilm, deren Recherchen sie – mit Unterbrechungen – schließlich acht Jahre gekostet haben. Kontakte zu Volksund Betriebswirten, Bank- und Unternehmensmanagern mussten geknüpft werden, Interviewpartner sagten ab, Fragen mussten doppelt gegengeprüft werden.
Es ist gut, dass die Regisseurin so große Beharrlichkeit gezeigt hat. Mit „Oeconomia“geht sie noch einen Schritt weiter als in „Work Hard – Play Hard“, blickt in den Maschinenraum des heutigen Kapitalismus – und braucht kaum eine historische Perspektive, um Widersprüche aufzudecken. Wieder zieht die Kamera Dirk Lütters dabei fasziniert durch die Architekturen der Macht. Bei einer Aufzugfahrt in luftige Höhen zum Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), Peter Praet, spürt der Zuschauer, wie den Finanzarbeitern allein wegen ihres baulichen Umfelds jeglicher Bodenkontakt abhanden kommen muss. Durch eine Überblendung lässt er eine Ähnlichkeit entstehen zwischen der Fassade der EZB und dem Kästchenraster, in dem Carmen Losmann wichtige Erkenntnisse verschlagwortet: Damit lässt sie eine KapitalismusMatrix entstehen.
Durch die nüchterne Betrachtung von tristen Vorgängen wie der modernen Geldschaffung und ihr stoisches Bestehen auf der Klärung grundlegender Fragen, die selbst einen Peter Praet aus dem Konzept bringen, hat Carmen Losmann einen Film geschaffen, der gesellschaftliche Sprengkraft besitzt. Kaum jemand wird aus dem Kino kommen und finden, dass die Funktionsweisen unseres Finanzund Wirtschaftssystems grundsätzlich richtig sind. Man versteht jetzt klarer als je zuvor: Das System läuft nur stabil, wenn die Wirtschaft wächst. Dafür müssen gewinnbringend Kredite vergeben und aufgenommen werden. Und jedem Gewinn stehen an einer anderen Stelle Schulden gegenüber. Und was en passant klar wird: Die Finanz- und Wirtschaftswelt ist eine streng normierte, fast reine Männerwelt. Die einzige Frau, die mehrmals zu Wort kommt, ist die kritische Wirtschaftspublizistin Samirah Kenawi.
Oeconomia, Deutschland 2020 – Regie: Carmen Losmann, 89 Min.