Die Angst um die anderen
Wir waren doch immer vorsichtig. Hände desinfiziert, Maske getragen, Abstand gehalten. Freunde rollten schon mit den Augen. Es hat sich ja auch nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert. Aber die langen Schlangen vor den Teststationen sind Warnung genug.
Die Distanz ist immer das Schmerzlichste. Selbst bei der Beerdigung meines Schwiegervaters haben wir niemanden umarmt. Trost war nur mit Worten möglich. Weinen musste jeder für sich allein. Wie sehr doch die Umarmung fehlt. Das Halten. Aber nicht auszudenken, wenn die Älteren der Familie Corona bekommen würden. Sie gehören alle zur Risikogruppe.
Dann endlich Urlaub. Endlich Zeit, Mutter, Schwester und Schwager für einen Moment in Ruhe, wenn auch mit Abstand, zu sehen. 480 Kilometer trennen uns. Besuche sind ohnehin rar, in Corona-Zeiten erst recht. Jetzt wagen wir es aber. In Berlin hat es lange nicht geregnet, wir könnten draußen sitzen, dann haben Aerosole keine Chance.
Natürlich gießt es in Strömen. Meine Schwester und ich holen einen zusätzlichen Tisch herein und sorgen für Querlüftung. Die Essenstafel ist jetzt sechs Meter lang. Etwas ungemütlich, aber genügend Abstand. Hauptsache, wir sind zusammen. Wir haben uns so aufeinander gefreut.
Mein Mann ist müde, kein Wunder. Drei Wochen lang saß er am Bett seines sterbenden Vaters. Wen würde das nicht erschöpfen. Wir haben einen wunderbaren Abend, der einzige gemeinsame in diesen verrückten Zeiten. Am nächsten Morgen reisen sie schon wieder ab. Ob wir uns Weihnachten sehen, ist ungewiss. Die Zahl der Neuinfektionen steigt und steigt. Vielleicht wird ein Besuch zu gefährlich sein.
Am nächsten Tag geht mein Mann zum Arzt. Der macht vorsorglich einen Corona-Test. Gut, dass er auf Nummer sicher geht, finde ich. Aber sicher ist das Ergebnis negativ.
Positiv. Sein Ergebnis ist positiv. So müssen sich Schockwellen anfühlen. Ich habe zwar einen Marathon-Mann an meiner Seite. Sein Lungenvolumen ist grandios. Nach einem Unfall 2019 mit acht Rippenbrüchen und einem Lungenkollaps hat er auf der Intensivstation schon am ersten Tag wieder Runden gedreht. Da wird er auch noch Corona besiegen. Aber weiß man’s?
Und meine Mutter? Meine Schwester? Mein Schwager? Warum haben wir uns ausgerechnet jetzt getroffen? Warum nur musste es nach Wochen der Dürre genau dann regnen? Meine Schwester, die Gehtnicht-gibt’s-nichtFrau, tröstet uns. Es gehe ihnen gut, ich müsse doch um sie nicht weinen. Meine Mutter, der Fels in der Brandung, erinnert an die Omas, was sie alles durchgemacht hätten im Krieg. Falls sie sich jetzt in sehr, sehr viel kleinerem Maße, wie sie es sagt, bewähren müsse, werde sie das schon schaffen. Sie macht sich nur Sorgen um uns.
Wir werden getestet. In jeder Hinsicht. Das Gesundheitsamt verfolgt die Infektionskette meines Mannes. Er macht zum Erstaunen des Mitarbeiters so genaue Angaben, dass alle rund 80 Kontaktpersonen – Folgen einer Dienstreise und Terminreihe – schnell benachrichtigt werden können.
Positiv. Ich habe auch Corona. Das Warten auf die Ergebnisse der anderen wird jetzt zum Nervenkrieg. Das Gesundheitsamt ist inzwischen überlastet. Nach meiner Infektionskette fragt dort niemand mehr. Ich rufe alle Kontaktpersonen selber an. Eine hat Diabetes, eine andere gerade eine Krebserkrankung überstanden, eine weitere wird durch die Quarantäne einen erheblichen Verdienstausfall haben. Die Gespräche sind schwer. Es tut mir so leid.
Uns beschleicht das Gefühl, dass manche Kontakte gar nicht erfasst werden, weil Infizierte aus Scham lieber über Begegnungen schweigen statt sich als mögliche Gefahr für andere zu
Meine Mutter erinnert an die Omas, was sie alles durchgemacht hätten im Krieg