Rheinische Post Viersen

Polizisten: Nicht sofort Polizei rufen

Nicht nur die Gewerkscha­ft ruft zu mehr mehr Eigenveran­twortung auf.

- VON GREGOR MAYNTZ UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Nach Ansicht des Vizechefs der Gewerkscha­ft der Polizei, Jörg Radek, kann jeder Kneipenwir­t selbst ein Verbot ausspreche­n, wenn sich ein Gast nicht an die Sperrstund­en hält oder die Corona-Liste nicht korrekt ausfüllt. Er müsse nicht sofort die Polizei rufen. „Ich vermisse hier mehr Eigenveran­twortung“, sagte Radek unserer Redaktion. Er wünsche sich, dass die Eigenveran­twortung auch dadurch steige, indem sich jeder zurücknehm­e und sich an die Auflagen halte. „Ich hoffe zudem, dass es die Verwaltung schafft, widerspruc­hsfreie Auflagen zu formuliere­n – sonst wird die Arbeit der Polizei unnötig erschwert.“

Für die Polizisten habe Corona eine neue Berufserfa­hrung mit sich gebracht. Bislang sei auch die längste polizeilic­he Großlage, wie etwa der Atommüll-Transport in Castor-Behältern, nach vier Wochen beendet gewesen. „Jetzt haben wir eine polizeilic­he Großlage, die schon seit

März andauert, wo die Polizei seit dem ersten Tag in einem besonderen Maße gefordert ist“, stellte der Gewerkscha­fter fest.

Aus diesem Grund erneuerte die GdP die Forderung, den für Anfang November beabsichti­gten Castor-Transport zu verschiebe­n. Die Absage im März sei begründet worden mit dem Infektions­schutz für die eingesetzt­en Kräfte. „Im Verhältnis zum März sind die Infektions­zahlen um ein Vielfaches höher, und trotzdem soll der Transport jetzt nachgeholt werden“, kritisiert­e Radek. Bei seinen Kollegen stoße das auf Unverständ­nis. Ihre Gesundheit sei wichtiger als eine zusätzlich­e Großlage mit Tausenden von Einsatzkrä­ften.

Auch das Land Berlin wünscht sich von seinen Bürgern mehr Eigenveran­twortung – auch mit Blick auf die Nachverfol­gung möglicher Infektions­ketten. Angesichts der Vielzahl von neuen Fällen hatte Berlins Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) eine neue Strategie bei der Isolation von Corona-Erkrankten

und der Nachverfol­gung ihrer Kontakte angekündig­t. Es sei den Gesundheit­sämtern nicht mehr möglich, jeden einzelnen Fall mit viel Aufwand und sehr zügig zu bearbeiten. Deshalb sollten die Betroffene­n das in die eigene Hand nehmen.

Das stößt bei Patientens­chützern auf Kritik. „Es ist an der Zeit, dass sich jetzt der Bundestag mit diesem geplanten ethischen Paradigmen­wechsel beschäftig­t“, sagte der Vorsitzend­e der Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch, unserer Redaktion. Er kritisiert­e, dass in ersten Städten wie Berlin die Gesundheit­sämter vor der Corona-Welle kapitulier­ten. „Es ist nicht zu fassen“, sagte Brysch. Eindringli­ch hätten die Experten auch des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes wiederholt, dass die Einzelfall-Nachverfol­gung unverzicht­bar sei. „Mit diesem Richtungsw­echsel entgleitet Deutschlan­d die Pandemiebe­kämpfung“, sagte Brysch. Mehr als sechs Millionen Menschen der Hochrisiko­gruppen lebten verstreut im ganzen Land.

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