„Wir erleben ein Trauerspiel“
Der Kirchenrechtler sieht einen Gesichtsverlust für das Erzbistum Köln, weil es die Missbrauchs-Studie noch nicht veröffentlicht hat.
Herr Schüller, zehn Jahre nachdem der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche an die breite Öffentlichkeit gelangte, wird jetzt in den Bistümern erstmals intensiv auch nach Verantwortlichen in Leitungsfunktionen gesucht. Zu spät? Oder war es richtig, sich erst auf die Täter zu konzentrieren?
SCHÜLLER Die Täter zu ermitteln, ist zum einen dringlich, um der Verjährung von möglichen Straftaten zu begegnen, und zum anderen auch eine zwingende Rechtspflicht, Straftäter zur Rechenschaft zu ziehen, damit den vielen Opfern sexueller Gewalt in der Kirche Gerechtigkeit widerfahren kann für den Seelenmord, der an ihnen begangen wurde. Jetzt beginnt die Phase der Suche nach den kirchenpolitischen Verantwortlichen, angefangen von den Bischöfen bis hin zu ihren engsten klerikalen Mitarbeitern wie Generalvikaren, Offizialen und Personalchefs, die willfährig und mit Vorsatz diese Verbrechen vertuscht und somit wissentlich ihre klerikalen Mitbrüder – die schwerste Verbrechen begangen haben – gedeckt haben. Dies kommt sicher spät, aber nicht zu spät, entspricht aber auch langjährigen empirischen Erfahrungen im Umgang mit solchen Prozessen in Politik und Wirtschaft.
Die Recherche in den Bistumsleitungen in Deutschland wird manches über das „System Kirche“aussagen. Könnte das tiefgreifendere Reformen zur Folge haben, als manche sich das vorstellen? SCHÜLLER Ich hoffe es. Papst Franziskus hat mit der Schaffung des Straftatbestandes der Vertuschung von sexuellem Missbrauch durch Bischöfe schon eine erste Veränderung angeordnet, die, wie aktuell in Polen zu sehen ist, Bischöfe ihr Amt kostet. Ob allerdings die bisher unkonditionierte Machtfülle des Papstes und der Diözesanbischöfe natürlich in Abhängigkeit vom Papst aufgebrochen wird – hin zu Machtkontrolle und Transparenz und mehr Entscheidungsgewalt der Gläubigen –, sehe ich eher skeptisch. Vor allem: Solange nicht Frauen in alle Ämter der Kirche kommen können, bleibt die toxische Gefahr eines männerbündischen klerikalen Systems, das immer wieder neue Opfer sexueller und geistlicher Gewalt produzieren wird.
Die Untersuchung im Erzbistum Köln hatte das Ziel, bedingungslose Aufklärung zu betreiben. Jetzt hat man allerdings zunehmend den Eindruck, als würde doch wieder vieles verheimlicht. Wie groß ist der Schaden?
SCHÜLLER Der Schaden für das Erzbistum ist gewaltig und wird nachhaltig Erosionen auslösen, die existenzgefährdend sein können. Wir erleben ein Trauerspiel, bei dem interessengeleitet vor der Veröffentlichung des unabhängigen Untersuchungsberichtes augenscheinlich aus der Kirche heraus Informationen an die Presse gestreut werden, um bischöfliche Mitbrüder als Vertuscher zu demaskieren, während man von den weiteren Akteuren in den eigenen Reihen abzulenken versucht. Ich erkläre mir so ein unwürdiges Spiel mit Angst und Panik im Wissen um die eigene Verantwortung, der man sich nicht stellen will. Ein solch bizarres Schauspiel widert die Gläubigen an.
Es hieß, dass Kardinal Woelki erst am Tag der Publikation vom Inhalt der Untersuchung erfahren würde. Wäre es jetzt an der Zeit, dass der Kardinal die Veröffentlichung in eigener Verantwortung festsetzt? SCHÜLLER Unbedingt, auch auf die Gefahr hin, dass die tatsächlichen oder vorgeschobenen persönlichkeitsrechtlichen Aspekte bei der Nennung von lebenden Verantwortlichen, die in den Berichten genannt werden, weitere Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen können. Die kirchliche wie säkulare Öffentlichkeit im Erzbistum Köln, vor allem aber die Opfer sexueller Gewalt, haben ein Recht zu erfahren, wer in den letzten Jahrzehnten von den Kölner Verantwortungsträgern wie im Umgang mit Anzeigen von sexuellem Missbrauch gehandelt hat. Dies kann im Ergebnis zu sehr schmerzhaften Ergebnissen führen, die geschätzte kirchliche Würdenträger, die sicher auf anderen Feldern hohe Verdienste aufweisen und bis heute verehrt werden, in ein neues, für sie schlechtes Licht stellen, das sie als Vertuscher sexueller Gewalt in der Kirche demaskiert.
Das Bistum Münster hat die Einsicht der Personalakten und die Verantwortung der Publikation in die Hände der Universität gelegt.
Ist das ein besserer, überzeugenderer Weg?
SCHÜLLER Der im Bistum Münster gegangene Weg ist insofern überzeugender, als die beauftragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur sämtliche Unterlagen zur Einsicht erhalten, sondern auch völlig frei sind, was die
Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse angeht. Nur so kann unabhängige, wissenschaftlich nachvollziehbare Aufklärung gelingen.
Wenn über Versäumnisse in der Kirche gesprochen wird, müsste man auch über die Verantwortung von Bischöfen reden. Wären in Deutschland Rücktritte denkbar – oder als Zeichen der Anerkennung von Schuld sogar wünschenswert? SCHÜLLER Aktuell wird mir zu viel beschönigend von „Mitverantwortung“, von „Bedauern“und persönlichem „Betroffensein“durch angefragte Entscheidungsträger der katholischen Kirche gesprochen, oder auch von „schweren Fehlern“, die man gemacht habe. Aber die Worte „eigene Verantwortung“und Bekenntnis der eigenen Schuld, davon hört man so gut wie gar nichts, geschweige denn, dass man eine persönliche Antwort auf diese nicht wahrgenommene Verantwortung gibt. Mir geht es hier nicht um die schnell dahergesagte Forderung nach Rücktritten. Es wäre für mich schon ein erster Schritt, dass die angefragten Bischöfe, die noch im Amt sind, die vielleicht früher als Generalvikare und Personalchefs Schuld auf sich geladen haben, dies auch öffentlich eingestehen. Sie selbst müssen dann vor ihrem Gewissen persönlich abschätzen und entscheiden, was zu tun ist. Da ist jeder Fall eigens gelagert.