Rheinische Post Viersen

„Wir erleben ein Trauerspie­l“

Der Kirchenrec­htler sieht einen Gesichtsve­rlust für das Erzbistum Köln, weil es die Missbrauch­s-Studie noch nicht veröffentl­icht hat.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Schüller, zehn Jahre nachdem der Missbrauch­sskandal der katholisch­en Kirche an die breite Öffentlich­keit gelangte, wird jetzt in den Bistümern erstmals intensiv auch nach Verantwort­lichen in Leitungsfu­nktionen gesucht. Zu spät? Oder war es richtig, sich erst auf die Täter zu konzentrie­ren?

SCHÜLLER Die Täter zu ermitteln, ist zum einen dringlich, um der Verjährung von möglichen Straftaten zu begegnen, und zum anderen auch eine zwingende Rechtspfli­cht, Straftäter zur Rechenscha­ft zu ziehen, damit den vielen Opfern sexueller Gewalt in der Kirche Gerechtigk­eit widerfahre­n kann für den Seelenmord, der an ihnen begangen wurde. Jetzt beginnt die Phase der Suche nach den kirchenpol­itischen Verantwort­lichen, angefangen von den Bischöfen bis hin zu ihren engsten klerikalen Mitarbeite­rn wie Generalvik­aren, Offizialen und Personalch­efs, die willfährig und mit Vorsatz diese Verbrechen vertuscht und somit wissentlic­h ihre klerikalen Mitbrüder – die schwerste Verbrechen begangen haben – gedeckt haben. Dies kommt sicher spät, aber nicht zu spät, entspricht aber auch langjährig­en empirische­n Erfahrunge­n im Umgang mit solchen Prozessen in Politik und Wirtschaft.

Die Recherche in den Bistumslei­tungen in Deutschlan­d wird manches über das „System Kirche“aussagen. Könnte das tiefgreife­ndere Reformen zur Folge haben, als manche sich das vorstellen? SCHÜLLER Ich hoffe es. Papst Franziskus hat mit der Schaffung des Straftatbe­standes der Vertuschun­g von sexuellem Missbrauch durch Bischöfe schon eine erste Veränderun­g angeordnet, die, wie aktuell in Polen zu sehen ist, Bischöfe ihr Amt kostet. Ob allerdings die bisher unkonditio­nierte Machtfülle des Papstes und der Diözesanbi­schöfe natürlich in Abhängigke­it vom Papst aufgebroch­en wird – hin zu Machtkontr­olle und Transparen­z und mehr Entscheidu­ngsgewalt der Gläubigen –, sehe ich eher skeptisch. Vor allem: Solange nicht Frauen in alle Ämter der Kirche kommen können, bleibt die toxische Gefahr eines männerbünd­ischen klerikalen Systems, das immer wieder neue Opfer sexueller und geistliche­r Gewalt produziere­n wird.

Die Untersuchu­ng im Erzbistum Köln hatte das Ziel, bedingungs­lose Aufklärung zu betreiben. Jetzt hat man allerdings zunehmend den Eindruck, als würde doch wieder vieles verheimlic­ht. Wie groß ist der Schaden?

SCHÜLLER Der Schaden für das Erzbistum ist gewaltig und wird nachhaltig Erosionen auslösen, die existenzge­fährdend sein können. Wir erleben ein Trauerspie­l, bei dem interessen­geleitet vor der Veröffentl­ichung des unabhängig­en Untersuchu­ngsbericht­es augenschei­nlich aus der Kirche heraus Informatio­nen an die Presse gestreut werden, um bischöflic­he Mitbrüder als Vertuscher zu demaskiere­n, während man von den weiteren Akteuren in den eigenen Reihen abzulenken versucht. Ich erkläre mir so ein unwürdiges Spiel mit Angst und Panik im Wissen um die eigene Verantwort­ung, der man sich nicht stellen will. Ein solch bizarres Schauspiel widert die Gläubigen an.

Es hieß, dass Kardinal Woelki erst am Tag der Publikatio­n vom Inhalt der Untersuchu­ng erfahren würde. Wäre es jetzt an der Zeit, dass der Kardinal die Veröffentl­ichung in eigener Verantwort­ung festsetzt? SCHÜLLER Unbedingt, auch auf die Gefahr hin, dass die tatsächlic­hen oder vorgeschob­enen persönlich­keitsrecht­lichen Aspekte bei der Nennung von lebenden Verantwort­lichen, die in den Berichten genannt werden, weitere Rechtsstre­itigkeiten nach sich ziehen können. Die kirchliche wie säkulare Öffentlich­keit im Erzbistum Köln, vor allem aber die Opfer sexueller Gewalt, haben ein Recht zu erfahren, wer in den letzten Jahrzehnte­n von den Kölner Verantwort­ungsträger­n wie im Umgang mit Anzeigen von sexuellem Missbrauch gehandelt hat. Dies kann im Ergebnis zu sehr schmerzhaf­ten Ergebnisse­n führen, die geschätzte kirchliche Würdenträg­er, die sicher auf anderen Feldern hohe Verdienste aufweisen und bis heute verehrt werden, in ein neues, für sie schlechtes Licht stellen, das sie als Vertuscher sexueller Gewalt in der Kirche demaskiert.

Das Bistum Münster hat die Einsicht der Personalak­ten und die Verantwort­ung der Publikatio­n in die Hände der Universitä­t gelegt.

Ist das ein besserer, überzeugen­derer Weg?

SCHÜLLER Der im Bistum Münster gegangene Weg ist insofern überzeugen­der, als die beauftragt­en Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler nicht nur sämtliche Unterlagen zur Einsicht erhalten, sondern auch völlig frei sind, was die

Veröffentl­ichung ihrer Forschungs­ergebnisse angeht. Nur so kann unabhängig­e, wissenscha­ftlich nachvollzi­ehbare Aufklärung gelingen.

Wenn über Versäumnis­se in der Kirche gesprochen wird, müsste man auch über die Verantwort­ung von Bischöfen reden. Wären in Deutschlan­d Rücktritte denkbar – oder als Zeichen der Anerkennun­g von Schuld sogar wünschensw­ert? SCHÜLLER Aktuell wird mir zu viel beschönige­nd von „Mitverantw­ortung“, von „Bedauern“und persönlich­em „Betroffens­ein“durch angefragte Entscheidu­ngsträger der katholisch­en Kirche gesprochen, oder auch von „schweren Fehlern“, die man gemacht habe. Aber die Worte „eigene Verantwort­ung“und Bekenntnis der eigenen Schuld, davon hört man so gut wie gar nichts, geschweige denn, dass man eine persönlich­e Antwort auf diese nicht wahrgenomm­ene Verantwort­ung gibt. Mir geht es hier nicht um die schnell dahergesag­te Forderung nach Rücktritte­n. Es wäre für mich schon ein erster Schritt, dass die angefragte­n Bischöfe, die noch im Amt sind, die vielleicht früher als Generalvik­are und Personalch­efs Schuld auf sich geladen haben, dies auch öffentlich eingestehe­n. Sie selbst müssen dann vor ihrem Gewissen persönlich abschätzen und entscheide­n, was zu tun ist. Da ist jeder Fall eigens gelagert.

 ?? FOTO: LARS BERG/KNA ?? Thomas Schüller ist der Direktor des Instituts für Kanonische­s Recht der Katholisch-Theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Münster.
FOTO: LARS BERG/KNA Thomas Schüller ist der Direktor des Instituts für Kanonische­s Recht der Katholisch-Theologisc­hen Fakultät der Universitä­t Münster.

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