Rheinische Post Viersen

Der unbekannte Richter

Das Dresdner Albertinum gibt Einblicke ins Frühwerk des wohl bekanntest­en zeitgenöss­ischen deutschen Künstlers. Im Fokus stehen die Jahre 1961 und 1962.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

DRESDEN Eigentlich geht es dem Künstler Gerhard Richter in der DDR gar nicht schlecht. Vom Erlös seiner Bilder kann er ganz gut leben, in Dresden, wo er studiert hat und an der Kunst-Hochschule weiterhin wirkt, gilt er manchen jungen Kollegen sogar schon als Bonze und Sprachrohr der Einheitspa­rtei. Doch Gerd – wie er sich damals nennt – sieht sich in einer künstleris­chen und politische­n Sackgasse. Auf der Dokumenta in Kassel hat er den Surrealism­us und die abstrakte und informelle Moderne kennengele­rnt. Jetzt hat er keine Lust mehr, sein Talent mit dem von der SED propagiert­en sozialisti­schem Realismus zu vertrödeln. Auch wenn es für den 29-jährigen ein enormes Risiko und unkalkulie­rbares Wagnis ist: Gerd will in den Westen und ganz neu anfangen.

Im Februar 1961 verkauft er seinen Trabant, steckt ein paar Zeichnunge­n ein und fährt mit seiner Ehefrau Marianne nach Berlin. Schon vorher hatte er – auf der Rückreise von einem Studienauf­enthalt in Leningrad und Moskau – auf dem Berliner Bahnhof Zoo ein paar Koffer mit privaten Sachen deponiert. Diese wird er jetzt brauchen: Denn außer einem kleinen Begrüßungs­geld und warmen Worten erwartet ihn im Westen nichts und niemand. Trotzdem hofft er, an der Kunstakade­mie in Düsseldorf, wo sich in um Joseph Beuys und die Künstlergr­uppe ZERO eine progressiv­e Kunstszene entwickelt, Fuß zu fassen.

Doch bis er in die Klasse von Professor

Ferdinand Macketanz aufgenomme­n wird und ein eigenes Zimmer in der Kirchfelds­traße 104 beziehen kann, ist es noch ein weiter Weg. So muss er noch ein paar Wochen ins Aufnahmela­ger nach Gießen, um dort Formalität­en zu regeln und seiner Übersiedel­ung zu beschleuni­gen. An Helmut und Erika Heinze, seine in Radebeul nahe Dresden gebliebene­n Freunde, schreibt er in der Zeit des Wartens und Übergangs in eine ungewisse Zukunft immer wieder Briefe: „Es ist triste hier und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, notiert er.

Ein anderes Mal heißt es: „Nicht dass ich irgendetwa­s bereue. Für mich war das Abbrechen logisch und notwendig, wie immer es auch ausgehen mag.“Und immer wieder zieht er, zwischen vagen Hoffnungen und existenzie­lle Nöten schwankend, das lakonische Fazit: „Es ist, wie es ist.“

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“– so heißt jetzt auch eine Ausstellun­g im Dresdner Albertinum, die sich ganz dieser weithin unbekannte­n Phase im Leben des wohl bekanntest­en zeitgenöss­ischen deutschen Künstlers widmet. Die Schau präsentier­t Briefe und Dokumente, Zeichnunge­n und Bilder, die bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Ausstellun­g ist übersichtl­ich und präsentier­t nur wenige Werke, aber sie ist zum Verständni­s, wie Richter zu dem wurde, was er heute ist, ungemein wichtig.

Die in Vitrinen präsentier­ten Briefe zeigen einen von Angst und Sorgen gepeinigte­n Künstler, der sich in einer Zeichnung beispielsw­eise als

Gefangener im Gießener Lager stilisiert. Einen vom Leben gezeichnet­en Mann, der sich ein Zubrot mit dem Bemalen von Karnevalsw­agen und dem Verkauf von Mal-Utensilien verdient und der alles daran setzt, in Düsseldorf zu reüssieren, indem er seine in Dresden erprobten figurative­n Bildelemen­te mit den informelle­n und abstrakten Möglichkei­ten der westlichen Moderne kombiniert. Das spiegelt sich in seinen Werken wider: Während seine „Sitzende“noch sehr an Picassos kubistisch­e Zeichenhaf­tigkeit erinnert, sind die verschmier­te graue „Wunde“und der bunt verklecker­te „Fleck“schon abstrakte Farbfantas­ien, die er sich bei Karl Otto Götz abgeschaut haben mag, dem von Richter hoch verehrten Mal-Professor, in dessen Düsseldorf­er Klasse er schon bald, im April 1962, wechseln sollte.

Immer wieder schickt Richter Briefe zu seinen Freunden nach Radebeul, reflektier­t sein Werk, entwirft Skizzen für seine Bilder, legt

Fotos bei, die er von seiner Wohnung macht. Natürlich berichtet Richter ihnen auch von seiner ersten Ausstellun­g: Gemeinsam mit Manfred Kuttner kann er im September 1962 in der „Galerie junge Kunst“in Fulda einige seiner Werke zeigen. Sie erregen in der örtlichen Presse gewisses Aufsehen: Die an die Wand gehängten präpariert­en Kleidungss­tücke – zum Beispiel ein lackiertes Hemd – lösen angeregte Debatten aus: Von „einfach toll“über „großer Blödsinn“bis „Kulturscha­nde“reichen die von der „Fuldaer Volkszeitu­ng“zitierten Kommentare der Besucher.

Verkaufen wird Richter am Ende kein einziges der in Fulda gezeigten Werke. Aber das macht nichts. Er weiß jetzt, dass alles ganz anders werden muss. Um sich von allem Ballast zu befreien, verbrennt er die Bilder in einem Baucontain­er im Hof der Düsseldorf­er Akademie – ein Befreiungs­schlag und ein radikaler Neubeginn: „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte“, wird er viele Jahre später sagen. Nach dieser öffentlich­en Autodafé wird er Ende 1962 beginnen , seine Werke zu nummeriere­n und zu katalogisi­eren: Gemälde Nummer 1: „Tisch“.

Doch das ist ein anderes Kapitel. Wer einige dieser Werke – etwa das nach einem Foto gemalte unscharfe Bild Nummer 14 („Sekretärin“) oder die mit dem Rakel gezogene Farbexplos­ion Nummer 722-3: „Abstraktio­n“– bewundern will, braucht nur eine Treppe höher steigen: In der Dauerausst­ellung des Albertinum­s sind zwei Säle dem großen Meister gewidmet.

 ?? FOTO: GERHARD RICHTER ?? Atelierwan­d mit Werken von Gerhard Richter im Februar 1962. Rechts sitzend: sein Freund und Kollege Manfred Kuttner.
FOTO: GERHARD RICHTER Atelierwan­d mit Werken von Gerhard Richter im Februar 1962. Rechts sitzend: sein Freund und Kollege Manfred Kuttner.

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