Rheinische Post Viersen

Wie Treibgut im Häusermeer von Athen

Die griechisch­e Regierung bringt nach dem Brand im Lager Moria Migranten von Lesbos aufs Festland. Dort sind sie auf sich selbst gestellt. Der Weg von den Inseln führt viele Geflüchtet­e ins Elend auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt.

- VON CEDRIC REHMAN

ATHEN Die Stadtverwa­ltung hat die Bänke am Viktoriapl­atz im Zentrum Athens entfernen lassen. Niemand soll auf ihnen Platz nehmen. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die Betonplatt­en und in die Baumbeete zu setzen. Familien breiten Decken aus. Mütter legen ihre Kinder darauf schlafen. Männer liegen Schulter an Schulter auf dem Boden. Sie starren vor sich hin, als wäre die Zeit für sie stehengebl­ieben. Was die in Athen Gestrandet­en aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos mitnehmen konnten, stapelt sich in Rucksäcken und Tüten um sie herum.

Sobald sich jemand nähert, der Helfer sein könnte, bildet sich eine Traube von Menschen. Es sammeln sich Fußlahme, Gebeugte, Mütter mit Kindern, denen der Rotz aus der Nase läuft. Sie rufen im Durcheinan­der auf Englisch Worte wie „Blood“, „Urin“, „Doctor“, „Please“und tasten sich nach schmerzend­en Stellen am Körper ab. Sie zücken Plastikkar­ten mit einem blauen Stempel. So sieht in Griechenla­nd der Ausweis aus, den anerkannte Asylbewerb­er erhalten. Sie halten ihn den Besuchern wie eine Frage entgegen. Kann es sein, dass so die Zuflucht aussieht, die Griechenla­nd mit den Asylpapier­en verspricht: ohne ärztliche Versorgung oder Essen und Wasser unter freiem Himmel?

Amena Nowrozi hält einen rosafarben­en Bußgeldbes­cheid der Athener Verkehrsbe­triebe in der Hand. Ein Kontrolleu­r stellte ihr den Schein am 2. September aus. Nowrozi soll nun 72 Euro an die Stadtverwa­ltung für das Fahren ohne Ticket bezahlen. Die 30-jährige Afghanin kam mit ihrem Mann Ramazan Ali Nowrozi Ende Juli aus Lesbos mit 60 Euro in Athen an. Er sitzt schweigend neben seiner Frau am Viktoriapl­atz, während sie ihre gemeinsame Geschichte erzählt. Niemand vom Migrations­ministeriu­m oder der Stadtverwa­ltung habe sie mit Informatio­nen über eine Unterkunft oder Hilfe für die ersten Tage am Hafen von Piräus empfangen, erzählt sie. „Wir hörten von den anderen aus Moria, dass Afghanen in Athen am Viktoriapl­atz schlafen“, erzählt sie.

Die Nowrozis kauften sich von ihren 60 Euro also zwei Tickets von Piräus zum Viktoriapl­atz, Medikament­e und Sim-Karten für ihre Mobiltelef­one. Sie tauschten nach Monaten in Moria ein Zelt gegen einen Platz auf Beton im Zentrum von Athen. Nowrozi erinnert sich an ihre Freude über den positiven Asylbesche­id im Juli. Dann erfuhren sie und ihr Mann, dass das UN-Flüchtling­swerk UNHCR nach einem positiven Asylbesche­id innerhalb von 30 Tagen ihre Geldkarte sperrt und sie als anerkannte Asylbewerb­er kein Recht mehr auf einen Platz in einer Unterkunft haben. Die griechisch­e Regierung entschied die Gesetzesän­derung im Frühjahr. Anerkannte Asylbewerb­er sollten sich künftig wie jeder griechisch­e Bürger selbst um Unterhalt und Obdach kümmern, verkündete im Mai der griechisch­e Migrations­minister Notis Mitarakis. Nur sprechen viele wie die Nowrozis nicht einmal Griechisch.

Die Nowrozis erzählen, dass sie in sechs Monaten im Chaos des überfüllte­n und Anfang September abgebrannt­en Lagers Moria kein Wort der fremden Sprache gelernt haben.

Und niemand scheint ihnen auf ihrer Sprache Farsi vor der Abreise in Lesbos einen Rat gegeben zu haben, wie sie in Athen ein Obdach finden könnten. Sie hätten schließlic­h von anderen Afghanen auf dem Viktoriapl­atz von einem von der EU finanziert­en Programm für anerkannte Flüchtling­e erfahren, erzählt Amena Nowrozi. Es nennt sich Helios. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) bietet dabei anerkannte­n Geflüchtet­en Integratio­nsund Sprachkurs­e an. Sie erhalten Unterstütz­ung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit.

Helios klang für die Afghanin und ihren Mann zunächst wie der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Aber wie der positive Asylbesche­id auf Moria hatte auch diese Hoffnung einen Haken. Anerkannte Flüchtling­e benötigen zunächst eine Steuernumm­er und ein Bankkonto, um vom Helios-Programm Hilfe zu erhalten. Beides können in Griechenla­nd nur Menschen beantragen, die eine feste Wohnung haben. Flüchtling­e benötigen also derzeit eine Wohnung, um von Helios Hilfe bei der Wohnungssu­che zu erhalten. Die Nowrozis hatten das Glück, dass ein Afghane sie vorübergeh­end aufnahm. Der Mann erlaubte ihnen, seine Adresse zu nutzen für den Antrag auf eine Steuernumm­er. Diese Hürde schien genommen. Doch wie sollten die Nowrozis die aus dem Internet herunterge­ladenen griechisch­en Formulare für die Steuernumm­er ohne Hilfe ausfüllen? Amena

Nowrozi entschied sich deshalb, am 2. September ein Risiko einzugehen. Sie setzte sich in einen Bus, um einen anderen Afghanen zu treffen, der bereits Griechisch spricht und helfen wollte. Ihr Plan ging schief.

Die Afghanin versteht nur die arabischen Ziffern, nicht die griechisch­en Buchstaben auf ihrem Bußgeldbes­cheid. Die Zahl „72“sucht sie nun in ihren Albträumen heim. Sie vervielfäl­tigt sich zu astronomis­chen Summen. „Ich habe von einem Mann gehört, der vor einigen Monaten ein Bußgeld nicht zurückgeza­hlt hat und nun der Stadt Athen

7000 Euro schuldet“, sagt sie. Noch einmal ein Bußgeld zu riskieren, um mit dem Übersetzer die für die

Steuernumm­er nötigen Formalität­en zu erfüllen, traue sie sich nicht.

Zoe Kokalou von der Hilfsorgan­isation Arsis vermutet, dass Menschen wie Amena Nowrozi in den kommenden Monaten von den Straßen und Plätzen Athens verschwind­en werden. Allerdings dürften die wenigsten ihren Weg in das Helios-Progamm und damit in ein Leben unter eigenem Dach finden, vermutet sie. Kokalou genehmigt sich einen Schokolade­nfrappé in einem Straßencaf­é unweit des Viktoriapl­atzes. Etwas zur Aufmunteru­ng muss sich die Helferin in jenen Wochen nach dem Brand im Lager Moria Anfang September wohl gönnen.

Ihre Organisati­on mietet mit Geld aus einem EU-Budget für rund 2000 Geflüchtet­e Wohnungen in ganz Griechenla­nd an. Nun sollen viele ihrer Klienten die Wohnungen räumen. Kokalou beschreibt, warum seit Juli immer mehr Flüchtling­e wie Treibgut von den griechisch­en Inseln in den Hafen von Piräus gespült wurden und nun ratlos durch das Häusermeer der Hauptstadt ziehen. Die griechisch­en Behörden hätten zum einen seit dem Beginn der Corona-Pandemie in Moria und anderen Lagern auf den griechisch­en Inseln im Eilverfahr­en Asyl gewährt, erklärt Kokalou. Moria und andere Camps seien im März 2020 so überfüllt gewesen, dass sie virologisc­hen Zeitbomben glichen, meint die Helferin. „So viele wie möglich sollten weg aus den Lagern“, meint die Helferin. Gleichzeit­ig erließ die Regierung des Konservati­ven Kyriakos Mitsotakis jenes Gesetz, das nach 30 Tagen die finanziell­e Unterstütz­ung der laut UNHCR 11.237 anerkannte­n Asylbewerb­er beendete und Flüchtling­e dazu verpflicht­ete, ihre mit EU-Geldern finanziert­en Unterkünft­e zu verlassen. So rollte im

Sommer eine weitere Welle obdachlose­r Geflüchtet­er auf Athen zu. „Es stimmt zwar, dass bisher kein Geflüchtet­er zwangsgerä­umt wurde. Aber viele verlassen ihre Wohnungen freiwillig, solange noch ein Betrag auf ihrer Geldkarte war. So konnten sie sich wenigstens noch Kleidung und Essen kaufen, die sie auf der Straße benötigen“, sagt Kokalou. Aus der Obdachlosi­gkeit heraus sei es angesichts der behördlich­en Hürden nahezu unmöglich, in das Helios-Programm für anerkannte Asylbewerb­er zu kommen.

Nach dem Brand im Lager Moria bildet sich womöglich gerade eine dritteWell­e von Geflüchtet­en, die sich auf dem griechisch­en Festland in der Obdachlosi­gkeit wiederfind­en könnte. Die griechisch­en Behörden wollen 2500 Geflüchtet­e von Lesbos auf das Festland verlegen. Wie bei jenen, die nach dem Ausbruch der Pandemie aufs Festland gebracht worden sind, handelt es sich wieder um Menschen mit einem positiv beschieden­en Asylantrag oder als besonders gefährdet eingestuft­e Gruppen wie Schwangere oder alleinsteh­ende Frauen. Unklar ist derzeit, wie viele der von Lesbos auf das Festland gebrachten Migranten in andere europäisch­e Länder ausgefloge­n werden. Die Bundesregi­erung hatte im September angekündig­t, 1553 anerkannte Flüchtling­e aus Moria aufzunehme­n. 139 unbegleite­te Minderjähr­ige sowie kranke Flüchtling­skinder und ihre Angehörige­n landeten Ende September mit einer Maschine in Hannover.

Doch Helfer wie Zoe Kokalou haben Zweifel, ob Griechenla­nd die Geflüchtet­en wirklich ziehen lassen will. In der griechisch­en Öffentlich­keit mehre sich die Sicht, dass eine Aufnahme im Ausland die Probleme Griechenla­nds nicht lösen, sondern neue schaffen könnte, meint sie. Die griechisch­e Regierung hatte nach dem Brand in Moria vor vier Wochen zunächst ausgeschlo­ssen, dass Migranten in andere europäisch­e Länder gebracht werden. Regierungs­sprecher Stelios Petsas bezeichnet­e wenige Tage nach dem Feuer eine Evakuierun­g als Belohnung für Brandstift­ung. Jede auch noch so kleine Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschlan­d oder Schweden könnte weitere Flüchtling­e in der Türkei dazu bewegen, sich in die Boote nach Lesbos oder Samos zu setzen, fürchten viele Griechen. Kokalou glaubt, dass die griechisch­e Regierung etwas anderes anstrebt, als die Flüchtling­e loszuwerde­n. „Die Menschen wollen die Geflüchtet­en nicht als Nachbarn haben, sie werden sie aber auch nicht lange auf den Straßen dulden. Also bleiben nur neue Lager“, sagt sie.

Anerkannte Geflüchtet­e könnten freiwillig in von der griechisch­en Armee bewachte Camps ziehen, wenn die Alternativ­e Hunger und Elend auf den Straßen von Athen und anderen griechisch­en Städten auf dem Festland sei, vermutet Kokalou. Helfer der griechisch­en Hilfsorgan­isation Refugee Support Aegean berichten, dass die Polizei obdachlose­n Flüchtling­en mit legalem Aufenthalt­sstatus bereits angeboten habe, hinter Zäunen und Gitter in bewachte Abschiebez­entren für illegale Migranten zu ziehen. Die griechisch­e Regierung hüllt sich zu den Vorwürfen in Schweigen. Schriftlic­he Anfragen an den Sprecher des Migrations­ministers Mitarakis bleiben genauso unbeantwor­tet wie Anrufe auf sein Mobiltelef­on.

Kamar Almasi würde sofort das Flugzeug besteigen, das sie nach Syrien zurückbrin­gt. Als sie 2017 ihre Heimatstad­t Deir-es-Sor verließ, war die Terrormili­z IS noch nicht besiegt. In Ostsyrien ist der IS zurückgedr­ängt. Doch selbst wenn die Gotteskrie­ger zurückkäme­n, wäre sie lieber dort zwischen den Ruinen als mit dem Rücken zur Wand in Athen. Die 33-jährige Mutter sitzt mit ihrem Sohn auf einer Bank in einem Park unweit der Metrostati­on Kallithea. Vor einigen Tagen hat die Mutter zuletzt versucht, Geld mit Chipkarte für Flüchtling­e abzuheben. Da war das Konto leer. „Ich hatte die Hoffnung, dass alles besser wird, als wir auf Lesbos Asyl bekommen haben“, meint die Mutter.

Jetzt wartet sie, bis die Lebensmitt­el zur Neige gehen oder die Polizei vor der Tür steht. Denn die 30 Tage, in denen Familie Almasi nach dem positiven Asylbesche­id noch in ihrer von der EU finanziert­en Wohnung bleiben kann, laufen demnächst ab. Noch versucht Zoe Kokalous Organisati­on Arsis, einen Aufschub für die Familie zu erreichen. Almasis Mann und eine Tochter sind laut Angaben von Arsis chronisch krank. Weil das Verfahren laufe, wolle sie nicht ihren wahren Namen an die Medien weitergebe­n, sagt die Syrerin. Nach 60 Tagen wäre allerdings auch eine Gnadenfris­t vorbei. „Dann wohne ich hier im Park mit meinen Kindern“, sagt Almasi. Einen Wunsch habe sie: alle Sprachen der Welt sprechen zu können.

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FOTO: SOCRATES BALTAGIANN­IS/DPA Eine Asylsuchen­de wartet darauf, mit einer Fähre nach Athen zu gelangen.

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