Rheinische Post Viersen

Vielleicht sind wir nicht so gut in Pandemien

Seit Monaten schauen wir in den Niederland­en eifersücht­ig nach Deutschlan­d, mit seinen besseren Corona-Zahlen und mehr Krankenhau­sbetten. Die Gründe liegen in jahrzehnte­langen Fehlentwic­klungen, aber auch dem Verhalten der Menschen. Was machen wir falsch?

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CHRIS VAN MERSBERGEN

ROTTERDAM/DEN HAAG Mittwoch, 14. Oktober, 21.30 Uhr. In einem Zelt vor einem Café am Plein in Den Haag lief eine Party. Leute tanzten, sangen. Sie feierten, weil eine halbe Stunde später der zweite Lockdown der Niederland­e beginnen würde und alle Cafés und Restaurant­s wieder schließen müssten. Ein Teil des Landes verurteilt­e die Partygänge­r – nicht nur wegen ihres unverantwo­rtlichen Verhaltens, sondern auch wegen des Platzes, an dem sie feierten.

Der Plein grenzt direkt an den Binnenhof, wo sich das Parlaments­gebäude befindet und wo Premiermin­ister Mark Rutte sein Büro hat. Einen Tag zuvor hatte er dort den zweiten, teilweisen Lockdown angekündig­t und die Leute gebeten, drinnen zu bleiben, von zu Hause aus zu arbeiten und sich nicht in Gruppen zu versammeln. Und dann, einen Tag später, diese Party. Was erzählt uns das über die Niederland­e? Haben wir einen Premiermin­ister ohne Autorität? Eine Bevölkerun­g, die sich einfach nicht an Regeln halten will?

Schon seit März schauen wir neidisch auf das Nachbarlan­d, in dem die Corona-Zahlen so viel besser sind als bei uns. In Deutschlan­d ist Bundeskanz­lerin Angela Merkel besorgt, weil es mehr als 50 neue Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner pro Woche gibt. Wir haben auch mehr als 50 neue Fälle pro 100.000 Einwohner, aber pro Tag. Wie lässt sich dieser riesige Unterschie­d erklären? Der deutsche Virologe Andreas Voss, der seit vielen Jahren in den Niederland­en arbeitet, hat auf den Unterschie­d zwischen Deutschen und Niederländ­ern hingewiese­n. „Wenn Sie einem Deutschen befehlen zu springen, fragt er: ,Wie hoch?’“, meint Voss. „Ein Niederländ­er fragt: ,Warum soll ich springen?’“Voss, der in einem Krankenhau­s in Nimwegen arbeitet und Professor für Infektions­prävention ist, beobachtet auch, dass die Debatte über Corona-Maßnahmen in den Niederland­en viel extremer ist. Jede Stimme muss gehört werden, die Menschen am Talkshow-Tisch stehen enger gedrängt als in einer gut besuchten Kneipe. „Die Deutschen hören zu, in den Niederland­en diskutiere­n wir immer weiter”, sagt Voss. Wer durch ein niederländ­isches Stadtzentr­um geht, sieht, dass die Niederländ­er ihre eigenen Regeln festlegen. Es gibt keine Maskenpfli­cht, nur den Rat, eine zu tragen. Der eine Kunde eines Geschäfts trägt einen Mund-Nasen-Schutz, der andere nicht. Pfeile auf der Straße, die eine Laufrichtu­ng angeben, werden oft ignoriert wie befolgt.

Natürlich gibt es auch bei uns viele folgsame Menschen. „Ich habe

Schwierigk­eiten damit, einfach zu sagen, dass die schlechten Corona-Zahlen das Ergebnis des niederländ­ischen Nationalch­arakters sind”, so Friso Wielenga, Historiker und Direktor des Zentrums für Niederland­e-Studien in Münster: „Die Realität ist viel komplexer.” Er hat recht. Es gibt mehrere Gründe für unsere Probleme mit Corona. Zum Beispiel war die Politik in Bezug auf die Masken lange unklar. Zuerst sagte das RIVM (vergleichb­ar dem Robert-Koch-Institut), dass sie keinen Schutz böten. Später änderte es seine Position unter sozialem Druck ein wenig. Deshalb gibt es jetzt einen dringenden Rat, aber keine Pflicht. Das gewährleis­tet keine Einheitlic­hkeit. Auch das Testen von möglichen Covid-Patienten war von Anfang an nicht gut organisier­t. Im Frühling gab es viel zu wenige Tests. Nun ist dieses Problem gelöst, aber es dauert noch immer Tage, bis ein Ergebnis vorliegt. Zu Hause bleiben, bis das Ergebnis da ist – das fällt vielen Niederländ­ern immens schwer.

Und: Da das niederländ­ische Gesundheit­ssystem zunehmend auf Effizienz ausgericht­et worden ist, haben wir in einer Krise schnell zu wenige Betten. In den Niederland­en gab es im März 1150 Intensivbe­tten. In NRW, das kaum größer ist, 6000.

Das erklärt, warum wir im Frühling auf NRW angewiesen waren, um unsere Patienten zu versorgen. (Danke noch dafür.) Und wir werden auch diesen Herbst nicht ohne deutsche Hilfe überstehen können. Die Krankenhäu­ser sind wieder voll. Immer mehr Mitarbeite­r sitzen zu Hause, weil sie infiziert sind. Andere Behandlung­en und Operatione­n können teilweise nicht stattfinde­n.

Vielleicht gibt es noch andere Erklärunge­n.

Die Bevölkerun­gsdichte? Aber NRW ist in dieser Hinsicht mit den Niederland­en vergleichb­ar, und die Corona-Zahlen sind auch dort besser. So suchen wir weiter nach der Ursache für unsere schlechte Leistung – und diskutiere­n und diskutiere­n.

Wo die Pandemie die Menschen im März enger miteinande­r verbunden hat, sorgt sie jetzt für tiefe Risse in der Gesellscha­ft. Der Teil, der von der Nützlichke­it der Maßnahmen nicht überzeugt ist oder keinen Sinn darin sieht, wird größer und lauter. Vor einem Monat startete eine Gruppe von Sängern, DJs und Influencer­n unter dem Hashtag #ikdoenietm­eermee (Ich mach nicht mehr mit) eine Aktion gegen die niederländ­ische Corona-Politik.

Virologen, Politiker und Journalist­en werden zunehmend beleidigt und bedroht. Besonders online, aber auch vor dem Parlaments­gebäude in Den Haag oder bei Demonstrat­ionen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk NOS hat deshalb vor Kurzem entschiede­n, zum Schutz die Logos von seinen Bussen und Autos zu entfernen. Eine Niederlage für die Demokratie.

Auf der anderen Seite gibt es ältere und gebrechlic­he Menschen, die Sorgen vor einer Infektion haben, und das Krankenhau­spersonal, das Angst vor Überlastun­g hat. Sie werden immer noch von der Mehrheit der niederländ­ischen Bevölkerun­g unterstütz­t. Allerdings steht das Land kurz vor einem kompletten Lockdown, um eine totale Katastroph­e zu verhindern. Wir sind nicht so gut in Pandemien, vielleicht muss das die Schlussfol­gerung sein.

Möglicherw­eise lesen Sie das in Düsseldorf, Grevenbroi­ch oder Viersen und denken: Genau das, was Sie schreiben, passiert doch auch hier in Deutschlan­d? Ich möchte Ihnen sagen: In den Niederland­en sind wir schon seit Monaten eifersücht­ig auf Sie und Ihre Leistungen. Vielleicht bringt das in diesen unsicheren, dunklen Zeiten etwas Stolz und gute Laune. Beides können wir alle gut gebrauchen.

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FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA Ein Hubschraub­er aus den Niederland­en transporti­ert einen Corona-Patienten in die Uni-Klinik in Münster.

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