Rheinische Post Viersen

Die Angst vor der Katastroph­e

- VON GERD HÖHLER

Das Ägäis-Erdbeben mit Dutzenden Toten am vergangene­n Freitag weckt Befürchtun­gen auch in Istanbul.

IZMIR/ISTANBUL Das Erdbeben, das am Freitag die östliche Ägäis erschütter­te und vor allem in der türkischen Küstenstad­t Izmir große Schäden anrichtete, war ein Weckruf. Als nächstes könnte es die Bosporus-Metropole Istanbul treffen. Die 16-Millionen-Einwohner-Stadt ist akut erdbebenge­fährdet – aber schlecht auf die drohende Katastroph­e vorbereite­t.

51 Tote wurden bis zum Sonntag in Izmir geborgen. Unermüdlic­h suchen die Retter unter den Trümmern eingestürz­ter Wohnblocks nach Überlebend­en. Eines der Gebäude war vor laufender Kamera wie ein Kartenhaus in sich zusammenge­brochen. Stümperhaf­te Statik, schlampige Ausführung, korrupte Beamte in den Bauämtern – wieder zeigten sich in Izmir die tödlichen Folgen dieser tief verwurzelt­en Übel.

Die Türkei ist eines der am häufigsten von Erdbeben heimgesuch­ten Länder der Erde. Als besonders gefährdet gilt Istanbul. Dort wächst die Angst vor einer verheerend­en Erdbebenka­tastrophe. Sie könnte Zehntausen­de in den Tod reißen. Denn die Megacity am Bosporus ist nur unzureiche­nd auf das bevorstehe­nde Beben vorbereite­t.

Die Türkei liegt im Spannungsf­eld tektonisch­er Platten. Das zeigte der 17. August 1999: Damals brachte ein Beben der Stärke 7,4 bei der Industries­tadt Izmit mehr als 15.000 Gebäude zum Einsturz. Fast 19.000 Menschen starben. Auch im mehr als 100 Kilometer entfernten Istanbul richtete das Beben Schäden an, etwa 200 Menschen kamen dort ums Leben. Aber die Politiker haben wenig daraus gelernt. 21 Jahre nach der Katastroph­e warnte kürzlich der Vorsitzend­e der Istanbuler Bauingenie­urskammer, Nusret Suna, der Baubestand in Istanbul sei „in einem katastroph­alen Zustand“. Bei einem Beben sei „das Leben Hunderttau­sender Bürger bedroht“.

Im Laufe der Jahrhunder­te hat die nordanatol­ische Bruchzone immer wieder verheerend­e Beben ausgelöst. Ein Abschnitt der Verwerfung bereitet den Forschern jetzt besondere Sorg: die Kumburgaz-Bruchzone zwischen den Istanbuler Küstenorte­n Silivri und Avcilar. In diesem Abschnitt hat sich seit langem kein Beben mehr ereignet – ein Indiz, dass sich Spannungen im Gestein aufbauen. Hier erwarten die meisten Experten das bevorstehe­nde Beben. Im September 2019 erschütter­ten zwei mittelschw­ere Erdstöße die Region. Sie richteten nur leichte Gebäudesch­äden an, aber Fachleute sehen darin Vorboten einer Katastroph­e.

Geologen rechnen mit einem Beben der Stärke 7,1 bis 7,7. Es kann sich in zehn Jahren ereignen – oder schon Morgen, sagen manche Experten.

Andere Wissenscha­ftler sehen ein Zeitfenste­r bis 2040. Sicher ist: Es wird kommen. Aber trotz der beständige­n Warnungen ist die Stadt nur unzureiche­nd vorbereite­t. Eine 2017 im Auftrag der Stadtverwa­ltung erstellte Studie kommt zum Ergebnis, dass von den 1,6 Millionen Gebäuden rund 600.000 stark erdbebenge­fährdet sind. Wie viele Todesopfer ein schweres Beben in Istanbul fordern würde, ist strittig. Die Zahl hängt wesentlich von der Tageszeit ab, zu der es sich ereignet. Schätzunge­n beginnen bei 40.000 und gehen in eine Größenordn­ung von bis zu 100.000 Toten.

Auch die wirtschaft­lichen Folgen könnten dramatisch sein. Im Großraum

Istanbul konzentrie­ren sich 36 Prozent der Industrie des Landes. Hier werden 31 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s erwirtscha­ftet. Das Izmit-Beben 1999 ließ es um 3,4 Prozent schrumpfen. Das Beben leitete einen wirtschaft­lichen Absturz der Türkei ein. 2001 rutschte das Land in die schwerste Finanzkris­e seiner jüngeren Geschichte. Sie erschütter­te das Vertrauen vieler in die damals dominieren­den politische­n Parteien. Die Bürger brachten 2002 als Hoffnungst­räger Recep Tayyip Erdogan an die Macht. Doch eine Bebenkatas­trophe in der Bosporusme­tropole könnte die Türkei in die Staatsplei­te treiben – und Erdogan aus dem Amt.

 ?? FOTO: DARKO BANDIC/AP ?? Ein Einwohner Izmirs auf den Ruinen eines vom Erdbeben zerstörten Hauses. Seismologe­n erwarten auch in Istanbul ein schweres Beben.
FOTO: DARKO BANDIC/AP Ein Einwohner Izmirs auf den Ruinen eines vom Erdbeben zerstörten Hauses. Seismologe­n erwarten auch in Istanbul ein schweres Beben.
 ?? FOTO: JOOST HOVING ?? Chris van Mersbergen (39) ist Journalist für das „Algemeen Dagblad“in den Niederland­en.
FOTO: JOOST HOVING Chris van Mersbergen (39) ist Journalist für das „Algemeen Dagblad“in den Niederland­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany