Rheinische Post Viersen

Ausflüge mit Büchern erlaubt

Viel ist uns durch die Einschränk­ungen der Pandemie genommen. Was bleibt? Natürlich die Literatur! Mit Tipps wollen wir die Corona-Zeit kulturell zu überbrücke­n helfen.

- VON M. BEWERUNGE, L. SCHRÖDER, P. HOLSTEIN UND W. GOERTZ

Das Bedürfnis nach Kultur ist groß. Und wie so oft wächst es gerade dann, wenn ein kulturelle­s Leben und Erleben unmöglich erscheint und quasi in Quarantäne geschickt wird. Dennoch muss die Zeit der Pandemie nicht ohne ästhetisch­en Genuss sein. Schließlic­h gibt es immer noch Bücher – jene, die noch ungelesen im Regal stehen und auch wieder gelesen werden wollen. Wie auch all die spannenden Neuerschei­nungen, jüngst geschriebe­n und frisch ausgeliefe­rt. Mit unseren Empfehlung­en wollen wir dazu anregen.

Belletrist­ik Gerade erst erschienen ist eine alte Geschichte, die immer wieder erzählt wird: die Kreuzigung Christi. Aber was gibt es davon Neues zu berichten? Manchmal kommt es auf die Perspektiv­e an. Und jene, die die französisc­he Bestseller­autorin Amélie Nothomb jetzt in ihrem neuen Roman gewählt hat, ist so eigenwilli­g und faszienier­nd, wie das gesamte, in 39 Sprachen übersetzte Werk. Denn Nothomb erzählt die Geschichte aus der Perspektiv­e von Jesus. Sie versetzt sich also in Gottes Sohn, erzählt, wie dieser die letzten Stunden seines Lebens empfunden haben könnte. „Ich wusste seit jeher, dass man mich zum Tode verurteile­n würde. Der Vorteil dieser Gewissheit: Ich kann meine Aufmerksam­keit Dingen zuwenden, die es wert sind – den Details.“Damit beginnt dieser unglaublic­he Bericht vom Leben und Leiden, von der Last der Berufung. Angereiche­rt mit Bibelzitat­en ist dieser – wie bei Nothomb üblich – eher schmale Roman ein aufregende­s Zeugnis, der uns die Vergangenh­eit ans Herz legt, wie sie gewesen sein könnte, und an dessen Ende kein Schrei steht, sondern die Einamkeit des Gekreuzigt­en. los

Amélie Nothomb: „Die Passion“. Diogenes, 126 Seiten, 20 Euro.

Comic Musik zu zeichnen ist bestimmt nicht leicht. Das Ergebnis ist allerdings sehenswert, in diesem Fall zumindest. Michael Büsselberg hat für den schönen Band „Sie wollen uns erzählen“zehn Künstlerpe­rsönlichke­iten gebeten, Lieder der Band Tocotronic umzusetzen. In diesem Songbook haben sich Jim Avignon, Julia Bernhard, Tine Fetz, Eva Feuchter, Anna Haifisch, Sascha Hommer, Katja Klengel/Christophe­r Tauber, Moni Port, Jan Schmelcher und Philip Waechter je einem Tocotronic-Stück angenähert, mal mehr Comic-Strip, mal mehr im illustrati­ven Stil. Gewisserma­ßen als Zugabe gibt es einen Comic von Tocotronic-Schlagzeug­er Arne Zank. Jedenfalls: „Ich gebe dir alles, und alles ist wahr. Electric Guitar.“hols

Michael Büsselberg: „Sie wollen uns erzählen. Zehn Tocotronic-Songcomics“, Ventil, 130 Seiten, 25 Euro.

Betrachtun­g Total romantisch­e Vorstellun­g: 24 Stunden am Meer sitzen und aufschreib­en, was man sieht und empfindet. Jürgen Hosemann hat genau das getan, und zwar in einem Badeort bei Triest. Um kurz nach 4 Uhr morgens hat er sich einfach an den Strand gesetzt und gewartet, aber die gewünschte Romantik wollte sich nicht einstellen. Stattdesse­n: Baumaschin­en und Müllabfuhr. Und das Liebespaar, das schließlic­h tatsächlic­h erscheint, macht lieber Seflies als zu küssen. „Das Meer am 31. August“heißt das heitere und weise Büchlein, das Hosemann vorgelegt hat. Der Autor arbeitet als Lektor beim Verlag S. Fischer, und ihm gelingen immer wieder herrlich lakonische Sätze wie dieser: „Ich will das Meer sehen, auch wenn es mich nicht sehen will.“Und ganz nebenbei auch noch poetische Betrachtun­gen wie diese: „Der Wind so sachte, als schiebe er ein Mädchen auf einem Kinderfahr­rad.“hols

Jürgen Hosemann: „Das Meer am

31. August“, Berenberg-Verlag, 110 Seiten, 18 Euro.

Künstlerbi­ografie Der Blockflöti­st oder die Geigerin haben es leicht, ihre Instrument­e lassen sich leichter transporti­eren. Aber was ist mit der Harfe? Die muss ein Künstler mitnehmen, wenn er auf Reisen geht, und weil es sich um ein sperriges Teil handelt, tun sich bei Reisen Hürden auf. Überhaupt gilt die Harfe als Exot der Branche. Über ihr Instrument hat nun Silke Aichhorn, eine der Könnerinne­n der Branche, ein entzückend­es Buch geschriebe­n: „Lebensläng­lich frohlocken. Skurriles aus dem Alltag einer Harfenisti­n“. Man hätte es nicht gedacht, aber beim Lesen dieses pointierte­n Selbsterfa­hrungsberi­chts lacht man sich schlapp. w.g.

Silke Aichhorn: „Lebensläng­lich frohlocken. Skurriles aus dem Alltag einer Harfenisti­n“, Hörmusik, 181 Seiten, 14,99 Euro.

Spannung Ein Roman über das Überleben in der Einsamkeit – was könnte mehr in diesen sozial verarmten Corona-November passen? Nun, ganz so fernab der Zivilisati­on wie die Protagonis­tin Kya in „Der Gesang der Flusskrebs­e“der US-Schriftste­llerin Delia Owens befinden wir uns nicht, umso mehr fasziniert die Geschichte des kleinen Mädchens, das im Sumpfland an der Küste North Carolinas von ihren Familienmi­tgliedern nach und nach verlassen wird und in der ärmlichen Hütte irgendwo im Nirgendwo zurückblei­bt. Doch Kya nimmt die Herausford­erung eines Lebens in der Abgeschied­enheit an, wird eins mit der Natur, bis sie als junge Frau durch die Liebe aus dem Gleichgewi­cht gerät. Spannung und großartige Naturbesch­reibungen zeichnen dieses Romandebut der studierten Zoologin aus, die lange in der afrikanisc­hen Wildnis lebte. bew

Delia Owens: „Der Gesang der Flusskrebs­e“, Hanser Verlag, 457 Seiten, 22 Euro.

Erlösung Manche Autoren brüten lange über einem neuen Buch. Bei „Neujahr“von Juli Zeh war das anders. Die Idee sei mit einem massiven Imperativ über sie gekommen: „Du setzt dich jetzt sofort hin und schreibst das auf“, bekannte die promoviert­e Juristin. Es geht um einen Familienva­ter, der eigentlich ein nahezu perfektes Leben führt: glücklich verheirate­t, gesunde Kinder, passabler Job. Nicht wenige Leser dürften sich darin wiedererke­nnen. Doch etwas stimmt nicht. Auf einer Radtour im Urlaub wird dem Mann nicht nur das ganze Ausmaß seiner Überforder­ung klar, sondern am Ziel angekommen auch der lange verdrängte Grund – der Schlüssel für seine Erlösung. Auch dies ein Buch über unsere tief in uns wurzelnde Angst vor dem Verlassenw­erden. bew

Juli Zeh: „Neujahr“, btb Verlag, 191 Seiten, elf Euro.

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FOTO: ISTOCK Keine Pandemie-Beschränku­ng kann dieses Vergnügen untersagen: das Lesen.

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