Podcast über die Welt vor 100 Jahren
Podcast „Auf den Tag genau“heißt der tolle neue Podcast, für den jeden Tag eine Zeitungsnachricht aus der Welt vor 100 Jahren vorgelesen wird. „Auf den Tag genau“versorgt seine Hörer jeden Morgen mit einem kurzen Text einer Berliner Tageszeitung über die 20er-Jahre. Dabei werden unterschiedliche Themen angesprochen und – mit zwei, drei Sätzen historisch eingebettet – vor die Augen beziehungsweise Ohren der Zuhörer gestellt. Es ist faszinierend zu hören, wie stark sich die Welt seither verändert hat, und wie schön die Sprache damals war. Seit März gibt es zudem einmal im Monat ein Interviewformat, „3 1/2 Fragen an“, in dem Experten wie Hans Ulrich Gumbrecht ausführlicher zu Wort kommen. Abonnieren kann man den Podcast bei Apple, Deezer und Spotify. Man fndet ihn auch per Google-Suche. hols
Klassik Jetzt beginnt sie wieder, die kulturlose Zeit, in der die Menschen vieles, was ihnen lieb ist, schmerzlich vermissen. Auch die Opernhäuser werden vorerst schließen, niemand kann mehr Mozarts „Rosenarie“aus dem „Figaro“oder das „Nessun dorma“aus „Turandot“live hören. Wir werden wieder streamen und unsere Platten herausholen.
Im 19. Jahrhundert unternahmen die Komponisten und Arrangeure eine ganze Menge, um einen ähnlichen gelagerten, doch anders begründeten Mangel auszugleichen. Damals entstanden – weil es deutlich weniger Opernhäuser und Konzertsäle gab – zahllose Fassungen großer Meisterwerke für den Hausgebrauch; Liszt schrieb Beethovens Sinfonien für Klavier um. Von Brahms’ „Requiem“gibt es sogar eine Fassung für zwei Klaviere – ohne Chor. Das bürgerliche Wohnzimmer als Konzertpodium. Nun ist beim Label Musicaphon (über Klassik-Center Kassel) die beeindruckende Aufnahme einer Bearbeitung von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“erschienen, die Hermann Behn (1857– 1927) angefertigt hatte. Der war eigentlich Rechtsanwalt, entsagte aber der Juristerei, weil er sich zur
Die infantile Gesellschaft,
Wagners „Tristan“für zwei Klaviere
Musik berufen fühlte. Er war Schüler von Joseph Rheinberger und Anton Bruckner und machte sich in Fachkreisen einen Namen durch virtuose Bearbeitungen von Wagner-Opern. Auch der „Tristan“geriet in seine Finger. Die Singstimmen übertrug er in die Stimmen der beiden Klaviere, die auch alle orchestralen Aufgaben zu erledigen hatten. Das Ganze dauert nur eine knappe Stunde, anders als das viel längere Original.
Doch zum Wühltisch wird die Musik nicht, im Gegenteil, man schaut der Musik sozusagen auf den Grund. Eine Wagner-Partitur zwischen Aquarium und Röntgenbild. Christiane Behn und Cord Garben spielen diese Version mit viel Sentiment und noch mehr Brillanz, doch mit wenig Pedal. Wagner sozusagen zum Mitschreiben. Man vermisst nichts. Das Original werden wir schon früh genug wieder hören dürfen. Wolfram Goertz