Alle Wege führen zur Niers
Die Niers verbindet die Heimatstädte unseres Autors. In Goch ist er aufgewachsen, seit mehr als 20 Jahren lebt er in Mönchengladbach. Auf seiner Fahrt erlebt er Golfer am Schloss und einen Stau auf der Autobahn.
MÖNCHENGLADBACH Wer zum Nierssee will, der muss zur Niers. Das ist mal ein Satz. Schön, dass so viele Wege zu dem Fluss führen, an dem ich geboren bin und an dem seit mehr als 20 Jahren meine (Wahl-)Heimat liegt. Ich muss mich nur irgendwann irgendwie links halten, wenn ich aus dem Haus komme. Dann wird das schon.
Es gehörte zu den ehernen Gesetzen meiner Früherziehung, körperlichen Kontakt mit der Niers dringend zu vermeiden. Dort, wo nun meine Heimat ist, leiteten nämlich die Mönchengladbacher Textilwerke ihr Abwasser in das bedauernswerte Flüsschen, das den Dreck auf seinem begradigten Verlauf bis nach Goch trug. Da kam eine ziemlich giftige Brühe an. Während meine Großeltern noch in der Niers hätten baden können, zumindest als sie noch Kinder waren – was sie dann übrigens aber doch nicht getan haben – stellten uns die Erziehungsberechtigten bei Berührung des (Ab-)Wassers allerlei Verheerungen in Aussicht. Die Schreckensvisionen reichten von Ganzkörper-Pusteln bis zum Verlust von Gliedmaßen. Das genügte, den Fuß niemals in den Fluss zu setzen.
Es hat sich viel getan in den vergangenen gut 60 Jahren. Die Textilindustrie hat sich aus Mönchengladbach verabschiedet, was für die Stadt und die Arbeitnehmer schlimm ist, für die Niers aber gut. Längst leben in der einstigen Giftbrühe wieder Fische, in meinem Geburtsort Goch kann man gemütlich auf dem Fluss paddeln, ohne fürchten zu müssen, dass die Hand abfällt, die zufällig mal ins Wasser ragte. Und am Ufer der Niers haben die Landschaftsschützer Vernunft angenommen. Wo es geht, wird die Begradigung, die aus dem Fluss über weite Strecken einen Kanal machte, aufgehoben. Der Fluss darf mäandern und sich seinen Weg durch Auen suchen. Das ist mal schön.
Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber die ersten Ergebnisse können sich sehen lassen. Zum Beispiel am Zoppenbroicher Park, von dem ich nach links auf einen gut ausgebauten Weg am Niersufer entlang einbiege. Der Fluss gurgelt in der Morgensonne und sieht buchstäblich goldig aus. Er fließt auch bedeutend schneller als an meinem Geburtsort. Das liegt an eingebauten Staustufen. Manchmal sieht die Niers hier fast so aus wie die Rur. Ich erkenne sie jedenfalls kaum wieder.
Erst hinter dem Rheydter Schloss sieht sie aus wie in Goch, ein gerader Fluss, nicht sonderlich breit, mit relativ hoher Böschung. Die Jungs vom Niersverband schneiden das Gras vom Boot aus. Ich fand schon früher die Berufsbezeichnung Wasserbauer fantasieanregend. In meiner kindlichen Vorstellung gehörten zum Berufsbild Begegnungen mit Flusspferden und Wasserbüffeln. So weit ist es im Bereich der Niers wohl noch nicht gekommen – trotz Klimawandel und tropischer Herbsttemperaturen.
Der Radweg knickt hinter Rheydt an der Bahnlinie ab, überquert die Schienen auf einer Brücke, unter der die Züge nach Düsseldorf mit einem bemerkenswerten Tempo entlangdonnern. Mit leichtem Gruseln erinnere ich mich, wie wir früher in Goch die Gleise als Abkürzung zum Bahnhof oder an der Brücke über die Niers für kleine Mutproben benutzt haben. Ich denke lieber nicht daran, was da hätte passieren können und genieße lieber die Aussicht auf nette Gärten hinter recht großen Häusern in den Niersauen. So mancher frühere Bauernhof findet hier eine neue Verwendung.
So ist es auch dem Wasser-Schloss Myllendonk ergangen. Es liegt ganz in der Nähe des Radwegs an der Niers, und es lohnt einen Abstecher. Die drei Türme sind weithin sichtbar. Sie blicken heute auf einen 18-Loch-Golfplatz mit gepflegten Grüns. Der Schlosspark ist Teil des Golfplatzes. Und natürlich gibt es reichlich Wasserhindernisse, die ältere Herren in bunten Hosen vor größere Herausforderungen stellen, über die sie sich in einer schwer verständlichen Sprache austauschen, in der die Wörter Rough, Bogey, Doppel-Bogey und Eisen einen bedeutenden Raum einnehmen. Aber nicht nur das Treiben der Golfer ist sehenswert, auch die Schloss-Kapelle verdient einen Besuch.
Früher herrschten von hier aus mindestens ab 1166 die Herren von Myllendonk über Teile des Niederrheins. Da wurden sie zum ersten Mal erwähnt. Ende des 13. Jahrhunderts starb das Geschlecht derer von Myllendonk aus, was wohl auch mit der nicht eben weltlichen Orientierung bedeutender Fami- lienmitglieder zu tun hat. Der Benediktinerabt Caesarius von Milendonk und dessen Schwester Irmintrudis von Mylendonk, die Äbtissin des Benediktinerinnenklosters in Bonn, gelten als die berühmtesten Sprosse (Sprossinnen?) der Familie.
Das Schloss ging in den Besitz der Herren von Salm-Reifferscheid über, später an die von Mirlaer. Die waren zumindest so traditionsbewusst, dass sie sich später nach dem Schloss Myllendonk benannten. Mehrere Besitzer kamen und gingen. Seit 1832 gehört das Schloss der Familie der Freiherrn von Wüllenweber. Das verraten die Chroniken und mein kleines elektronisches Nachschlagewerk, das ich auch beim Radfahren ständig bei mir trage. Ich lese darin aber nur im Stehen.
Um den Flughafen zu erkennen, brauche ich es nicht. Der ist weithin an der Landebahn zu identifizieren, eine Schnellstraßenbrücke zieht sich vorbei. Unter der Straße finden manchmal Trödelmärkte statt, es sieht nicht sehr heimelig aus. Der Flughafen ist wahrscheinlich der einzige in Deutschland mit angeschlossener Trabrennbahn. Genau wie der Flughafen hat die Trabrennbahn schon deutlich bessere Zeiten erlebt. Wenn hier in den 1960er Jahren die Stars des Trabrennsports in ihren Sulkys saßen, kamen zehntausende Zuschauer. Heute stehen an Renntagen vor und vielleicht nach Corona (wenn überhaupt) ein paar hundert auf der Tribüne. Das Wettgeschäft ist längst ins Internet weitergezogen, und Trabrennen sind auch dort nicht der Publikumsmagnet. Wer es nett ausdrücken will, der sagt, das Gelände habe einen morbiden Charme. Manchmal sieht es richtig traurig aus.
Der Flughafen dient reichen Menschen als Stützpunkt für ihre privaten Flugzeuge. Gelegentlich hebt mal ein Charterflugzeug ab. Früher konnte man von hier nach Usedom fliegen, und der Düsseldorfer Flughafen hat überlegt, einen Teil des internationalen Verkehrs nach Mönchengladbach auszulagern. Zu Gladbachs Unglück ist es so weit nicht gekommen, die Anwohner wird es freuen – und die Umwelt ebenfalls.
Ich lasse Ställe, Bahn und Flughafen in meinem Rücken hinter mir und folge dem Weg am Niersufer. Einfamilienhäuser säumen den Weg auf der einen Seite, eine Kleingartenanlage auf der anderen. Ich kann mich entscheiden, ob ich Richtung Viersen oder Wachtendonk fahren möchte. Die Entscheidung führt zunächst mal nur auf die linke (Viersen) oder rechte Seite der Niers. Weil der Fluss immer noch sehr gut überschaubar ist, kann man auch von der Wachtendonker Seite die Plastiken sehen, die auf einer Art Künstlerpfad auf der Viersener Seite stehen.
Es sind eliptische Säulen von mehr als zwei Metern Höhe, rot und weiß. Der Viersener Weg knickt allerdings bald nach links in die Felder ab, da gibt es noch einige dieser Stelen. Bevor sich die Wege voneinander verabschieden, könnte zusammenkommen, was zusammen gehört. Eine Seilfähre bietet die Gelegenheit zum Übersetzen. Sie besteht aus einem Drahtkorb, den man über besagtes Seil auf sein Ufer und dann ebenso auf die andere Seite ziehen kann. Es ist wirklich nicht schwierig. Aber es ist mit ordentlicher Geräuschentwicklung verbunden. Mit Rücksicht auf die Anwohner ist der Betrieb lediglich von neun bis 20 Uhr erlaubt. Darauf verweist ein Schild neben der Gebrauchsanweisung für die Fähre. Ich bleibe auf der Wachtendonker Seite.
Dafür werde ich mit einer Begegnung mit der Zivilisation belohnt. In ihrer Güte haben die Erbauer des Radwegs einen Aussichtspunkt auf die Schönheiten des niederrheinischen Autobahnverkehrs eingebaut. Am Autobahn-Anschlusspunkt Neuwerk schiebe ich mein Rad über eine Brücke zur Fortsetzung des Radwegs. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke nehme ich die Gelegenheit wahr, den Stau vor der Abfahrt zu bewundern. Auf der anderen Seite radle ich gemütlich ein paar hundert Meter neben stehenden Autos lang und biege schließlich mit einem wohligen Triumphgefühl wieder nach rechts in unbelebtere Landschaften ab.
Von einer Bank aus bestaune ich den Nierssee, der hinter einem Zaun liegt, ziemlich groß aussieht, aber Besuchern nicht weiter zugänglich ist. „Betreten des Betriebsgeländes verboten“, heißt es unmissverständlich. Vom weitem sehe ich es tüchtig sprudeln. Was aussieht wie ein Brunnen, ist wahrscheinlich so eine Art Umwälzpumpe, die im Dienst des Klärwerks steht, das mit seinen Türmen den Ausblick zur anderen Seite (Richtung Viersen) bestimmt.
Mich besucht ein freundliches Hündchen, das mit seiner Besitzerin zum Spaziergang aufgebrochen ist. Es hat ein wuscheliges Fell, schwarz-grau-weiß und ist hier offenbar zu Hause. Es erlaubt mir, noch einen Moment zu bleiben und eilt schwanzwedelnd in Richtung Wachtendonk davon.
Ich nehme den Rückweg. Und weil mir die Niers so sehr ans Herz gewachsen ist, schlage ich keinen Bogen und kehre so zurück, wie ich gekommen bin. Den Weg teile ich mit Spaziergängern und älteren Herrschaften, die auf ihren E-Bikes ohne Mühe an mir vorbeiziehen. Das beleidigt ganz kurz mein Selbstwertgefühl. Aber nur ganz kurz. Ich beschließe einen Anfall von Stolz über die muskelgetriebene Fortbewegung.
Und weil das Wetter gut ist, der Gegenwind kaum spürbar und die Sonne nach goldenem Herbst schmeckt, gelingt mir das sogar. Ich artikuliere mein Wohlgefühl in einer kleinen Gesangsattacke. Da saust wieder ein mindestens 70-Jähriger fröhlich winkend vorbei. Von elektrischer Unterstützung ist nichts zu erkennen. Das schmerzt ein bisschen. Aber nur ein bisschen.