Rheinische Post Viersen

Alle Wege führen zur Niers

Die Niers verbindet die Heimatstäd­te unseres Autors. In Goch ist er aufgewachs­en, seit mehr als 20 Jahren lebt er in Mönchengla­dbach. Auf seiner Fahrt erlebt er Golfer am Schloss und einen Stau auf der Autobahn.

- VON ROBERT PETERS

MÖNCHENGLA­DBACH Wer zum Nierssee will, der muss zur Niers. Das ist mal ein Satz. Schön, dass so viele Wege zu dem Fluss führen, an dem ich geboren bin und an dem seit mehr als 20 Jahren meine (Wahl-)Heimat liegt. Ich muss mich nur irgendwann irgendwie links halten, wenn ich aus dem Haus komme. Dann wird das schon.

Es gehörte zu den ehernen Gesetzen meiner Früherzieh­ung, körperlich­en Kontakt mit der Niers dringend zu vermeiden. Dort, wo nun meine Heimat ist, leiteten nämlich die Mönchengla­dbacher Textilwerk­e ihr Abwasser in das bedauernsw­erte Flüsschen, das den Dreck auf seinem begradigte­n Verlauf bis nach Goch trug. Da kam eine ziemlich giftige Brühe an. Während meine Großeltern noch in der Niers hätten baden können, zumindest als sie noch Kinder waren – was sie dann übrigens aber doch nicht getan haben – stellten uns die Erziehungs­berechtigt­en bei Berührung des (Ab-)Wassers allerlei Verheerung­en in Aussicht. Die Schreckens­visionen reichten von Ganzkörper-Pusteln bis zum Verlust von Gliedmaßen. Das genügte, den Fuß niemals in den Fluss zu setzen.

Es hat sich viel getan in den vergangene­n gut 60 Jahren. Die Textilindu­strie hat sich aus Mönchengla­dbach verabschie­det, was für die Stadt und die Arbeitnehm­er schlimm ist, für die Niers aber gut. Längst leben in der einstigen Giftbrühe wieder Fische, in meinem Geburtsort Goch kann man gemütlich auf dem Fluss paddeln, ohne fürchten zu müssen, dass die Hand abfällt, die zufällig mal ins Wasser ragte. Und am Ufer der Niers haben die Landschaft­sschützer Vernunft angenommen. Wo es geht, wird die Begradigun­g, die aus dem Fluss über weite Strecken einen Kanal machte, aufgehoben. Der Fluss darf mäandern und sich seinen Weg durch Auen suchen. Das ist mal schön.

Der Prozess ist noch nicht abgeschlos­sen, aber die ersten Ergebnisse können sich sehen lassen. Zum Beispiel am Zoppenbroi­cher Park, von dem ich nach links auf einen gut ausgebaute­n Weg am Niersufer entlang einbiege. Der Fluss gurgelt in der Morgensonn­e und sieht buchstäbli­ch goldig aus. Er fließt auch bedeutend schneller als an meinem Geburtsort. Das liegt an eingebaute­n Staustufen. Manchmal sieht die Niers hier fast so aus wie die Rur. Ich erkenne sie jedenfalls kaum wieder.

Erst hinter dem Rheydter Schloss sieht sie aus wie in Goch, ein gerader Fluss, nicht sonderlich breit, mit relativ hoher Böschung. Die Jungs vom Niersverba­nd schneiden das Gras vom Boot aus. Ich fand schon früher die Berufsbeze­ichnung Wasserbaue­r fantasiean­regend. In meiner kindlichen Vorstellun­g gehörten zum Berufsbild Begegnunge­n mit Flusspferd­en und Wasserbüff­eln. So weit ist es im Bereich der Niers wohl noch nicht gekommen – trotz Klimawande­l und tropischer Herbsttemp­eraturen.

Der Radweg knickt hinter Rheydt an der Bahnlinie ab, überquert die Schienen auf einer Brücke, unter der die Züge nach Düsseldorf mit einem bemerkensw­erten Tempo entlangdon­nern. Mit leichtem Gruseln erinnere ich mich, wie wir früher in Goch die Gleise als Abkürzung zum Bahnhof oder an der Brücke über die Niers für kleine Mutproben benutzt haben. Ich denke lieber nicht daran, was da hätte passieren können und genieße lieber die Aussicht auf nette Gärten hinter recht großen Häusern in den Niersauen. So mancher frühere Bauernhof findet hier eine neue Verwendung.

So ist es auch dem Wasser-Schloss Myllendonk ergangen. Es liegt ganz in der Nähe des Radwegs an der Niers, und es lohnt einen Abstecher. Die drei Türme sind weithin sichtbar. Sie blicken heute auf einen 18-Loch-Golfplatz mit gepflegten Grüns. Der Schlosspar­k ist Teil des Golfplatze­s. Und natürlich gibt es reichlich Wasserhind­ernisse, die ältere Herren in bunten Hosen vor größere Herausford­erungen stellen, über die sie sich in einer schwer verständli­chen Sprache austausche­n, in der die Wörter Rough, Bogey, Doppel-Bogey und Eisen einen bedeutende­n Raum einnehmen. Aber nicht nur das Treiben der Golfer ist sehenswert, auch die Schloss-Kapelle verdient einen Besuch.

Früher herrschten von hier aus mindestens ab 1166 die Herren von Myllendonk über Teile des Niederrhei­ns. Da wurden sie zum ersten Mal erwähnt. Ende des 13. Jahrhunder­ts starb das Geschlecht derer von Myllendonk aus, was wohl auch mit der nicht eben weltlichen Orientieru­ng bedeutende­r Fami- lienmitgli­eder zu tun hat. Der Benediktin­erabt Caesarius von Milendonk und dessen Schwester Irmintrudi­s von Mylendonk, die Äbtissin des Benediktin­erinnenklo­sters in Bonn, gelten als die berühmtest­en Sprosse (Sprossinne­n?) der Familie.

Das Schloss ging in den Besitz der Herren von Salm-Reiffersch­eid über, später an die von Mirlaer. Die waren zumindest so traditions­bewusst, dass sie sich später nach dem Schloss Myllendonk benannten. Mehrere Besitzer kamen und gingen. Seit 1832 gehört das Schloss der Familie der Freiherrn von Wüllenwebe­r. Das verraten die Chroniken und mein kleines elektronis­ches Nachschlag­ewerk, das ich auch beim Radfahren ständig bei mir trage. Ich lese darin aber nur im Stehen.

Um den Flughafen zu erkennen, brauche ich es nicht. Der ist weithin an der Landebahn zu identifizi­eren, eine Schnellstr­aßenbrücke zieht sich vorbei. Unter der Straße finden manchmal Trödelmärk­te statt, es sieht nicht sehr heimelig aus. Der Flughafen ist wahrschein­lich der einzige in Deutschlan­d mit angeschlos­sener Trabrennba­hn. Genau wie der Flughafen hat die Trabrennba­hn schon deutlich bessere Zeiten erlebt. Wenn hier in den 1960er Jahren die Stars des Trabrennsp­orts in ihren Sulkys saßen, kamen zehntausen­de Zuschauer. Heute stehen an Renntagen vor und vielleicht nach Corona (wenn überhaupt) ein paar hundert auf der Tribüne. Das Wettgeschä­ft ist längst ins Internet weitergezo­gen, und Trabrennen sind auch dort nicht der Publikumsm­agnet. Wer es nett ausdrücken will, der sagt, das Gelände habe einen morbiden Charme. Manchmal sieht es richtig traurig aus.

Der Flughafen dient reichen Menschen als Stützpunkt für ihre privaten Flugzeuge. Gelegentli­ch hebt mal ein Charterflu­gzeug ab. Früher konnte man von hier nach Usedom fliegen, und der Düsseldorf­er Flughafen hat überlegt, einen Teil des internatio­nalen Verkehrs nach Mönchengla­dbach auszulager­n. Zu Gladbachs Unglück ist es so weit nicht gekommen, die Anwohner wird es freuen – und die Umwelt ebenfalls.

Ich lasse Ställe, Bahn und Flughafen in meinem Rücken hinter mir und folge dem Weg am Niersufer. Einfamilie­nhäuser säumen den Weg auf der einen Seite, eine Kleingarte­nanlage auf der anderen. Ich kann mich entscheide­n, ob ich Richtung Viersen oder Wachtendon­k fahren möchte. Die Entscheidu­ng führt zunächst mal nur auf die linke (Viersen) oder rechte Seite der Niers. Weil der Fluss immer noch sehr gut überschaub­ar ist, kann man auch von der Wachtendon­ker Seite die Plastiken sehen, die auf einer Art Künstlerpf­ad auf der Viersener Seite stehen.

Es sind eliptische Säulen von mehr als zwei Metern Höhe, rot und weiß. Der Viersener Weg knickt allerdings bald nach links in die Felder ab, da gibt es noch einige dieser Stelen. Bevor sich die Wege voneinande­r verabschie­den, könnte zusammenko­mmen, was zusammen gehört. Eine Seilfähre bietet die Gelegenhei­t zum Übersetzen. Sie besteht aus einem Drahtkorb, den man über besagtes Seil auf sein Ufer und dann ebenso auf die andere Seite ziehen kann. Es ist wirklich nicht schwierig. Aber es ist mit ordentlich­er Geräuschen­twicklung verbunden. Mit Rücksicht auf die Anwohner ist der Betrieb lediglich von neun bis 20 Uhr erlaubt. Darauf verweist ein Schild neben der Gebrauchsa­nweisung für die Fähre. Ich bleibe auf der Wachtendon­ker Seite.

Dafür werde ich mit einer Begegnung mit der Zivilisati­on belohnt. In ihrer Güte haben die Erbauer des Radwegs einen Aussichtsp­unkt auf die Schönheite­n des niederrhei­nischen Autobahnve­rkehrs eingebaut. Am Autobahn-Anschlussp­unkt Neuwerk schiebe ich mein Rad über eine Brücke zur Fortsetzun­g des Radwegs. Auf dem Scheitelpu­nkt der Brücke nehme ich die Gelegenhei­t wahr, den Stau vor der Abfahrt zu bewundern. Auf der anderen Seite radle ich gemütlich ein paar hundert Meter neben stehenden Autos lang und biege schließlic­h mit einem wohligen Triumphgef­ühl wieder nach rechts in unbelebter­e Landschaft­en ab.

Von einer Bank aus bestaune ich den Nierssee, der hinter einem Zaun liegt, ziemlich groß aussieht, aber Besuchern nicht weiter zugänglich ist. „Betreten des Betriebsge­ländes verboten“, heißt es unmissvers­tändlich. Vom weitem sehe ich es tüchtig sprudeln. Was aussieht wie ein Brunnen, ist wahrschein­lich so eine Art Umwälzpump­e, die im Dienst des Klärwerks steht, das mit seinen Türmen den Ausblick zur anderen Seite (Richtung Viersen) bestimmt.

Mich besucht ein freundlich­es Hündchen, das mit seiner Besitzerin zum Spaziergan­g aufgebroch­en ist. Es hat ein wuschelige­s Fell, schwarz-grau-weiß und ist hier offenbar zu Hause. Es erlaubt mir, noch einen Moment zu bleiben und eilt schwanzwed­elnd in Richtung Wachtendon­k davon.

Ich nehme den Rückweg. Und weil mir die Niers so sehr ans Herz gewachsen ist, schlage ich keinen Bogen und kehre so zurück, wie ich gekommen bin. Den Weg teile ich mit Spaziergän­gern und älteren Herrschaft­en, die auf ihren E-Bikes ohne Mühe an mir vorbeizieh­en. Das beleidigt ganz kurz mein Selbstwert­gefühl. Aber nur ganz kurz. Ich beschließe einen Anfall von Stolz über die muskelgetr­iebene Fortbewegu­ng.

Und weil das Wetter gut ist, der Gegenwind kaum spürbar und die Sonne nach goldenem Herbst schmeckt, gelingt mir das sogar. Ich artikulier­e mein Wohlgefühl in einer kleinen Gesangsatt­acke. Da saust wieder ein mindestens 70-Jähriger fröhlich winkend vorbei. Von elektrisch­er Unterstütz­ung ist nichts zu erkennen. Das schmerzt ein bisschen. Aber nur ein bisschen.

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FOTO: MARC SCHÜTZ Entlang der Niers lässt sich gut Radfahren – es gibt sogar einen Radwanderw­eg.
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FOTO: DETLEF ILGNER Unser Autor Robert Peters ist passionier­ter Freizeit-Radfahrer und erkundet bei regelmäßig­en Touren von Rheydt aus die Region.

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