Rheinische Post Viersen

Der Deutschen Lust am Lüften

Dauer-, Stoß- und Querlüften – was hierzuland­e den meisten normal erscheint, imponiert in Corona-Zeiten im Ausland.

- VON MARTIN BEWERUNGE

DÜSSELDORF Als Stubenhock­er sind die alten Germanen nicht gerade bekannt. Ihr Alltag spielte sich zum großen Teil draußen an der frischen Luft ab. Aber schon damals achteten unsere Vorfahren darauf, dass ihre Behausunge­n gut gelüftet werden konnten, denn oft waren sie reichlich verqualmt. Damit der Rauch vom Herdfeuer entweichen konnte, gab es im Dach ihrer finsteren Katen eine geschwunge­ne Öffnung, die aussah wie ein Auge. Man entdeckt die Form noch heute an manch schmuckem Einfamilie­nhaus. „Windauge“nannten die Altvordere­n den Abzug, aber bei ihnen klang das hübsche Wort einen Hauch anders. Etwa, wie bei den Engländern heute: „window“.

Während sich auf den britischen Inseln der ursprüngli­che germanisch­e Begriff gehalten hat, schleicht sich auf dem Festland schon im 8. Jahrhunder­t das lateinisch­e „fenestra“ins Althochdeu­tsche ein. Vielleicht fanden die Leute, dass es sich schicker und moderner anhörte. Tatsache ist, dass sich das Volk der Dichter und Denker auch zu Liebhabern ausgesproc­hen dichter Fenster entwickelt­e, wohingegen es in nicht wenigen Altbauten im angelsächs­ischen Raum bis heute so erbärmlich zieht, als wären noch die Windaugen in Betrieb.

„Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen“, sagte selbst Angela Merkel einmal auf die Frage, was ihr beim Stichwort Deutschlan­d alles in den Sinn komme. Lange her. In diesen Tagen mahnt die Kanzlerin eher an, was mit dem Schwund an natürliche­r Frischluft­zufuhr in geschlosse­ne Räume hierzuland­e stets einherging: die Kultur des Lüftens.

Eine sehr deutsche Kultur, geradezu eine „nationale Obsession“, wie der britische „Guardian“unlängst befand, in dessen Verbreitun­gsgebiet Virologen nun ebenfalls empfehlen, öfter auf Durchzug zu schalten, um infektiöse Aerosole loszuwerde­n. Viele Deutsche öffneten ihre Fenster zweimal am Tag – sogar im Winter – und bedienten sich ausgefeilt­er Techniken, verriet die Zeitung ihren staunenden Lesern: „Querlüften“sei üblich, „Stosslüfte­n“gar. Obendrein seien deutsche Fenster mit einer ausgeklüge­lter Mechanik versehen, die verschiede­nste Grade der Öffnung erlaube: „In Germany, windows are designed with sophistica­ted hinge technology that allows them to be opened in various directions to enable varying degrees of Lüften.“

Lüften. Ein fasziniere­ndes Wort, noch dazu eins mit Umlaut, bereichert den Sprachscha­tz eines Landes, das normalerwe­ise massenhaft Anglizisme­n exportiert. Crazy! Dabei klingt Lüften natürlich deutlich sympathisc­her als „Blitzkrieg against Corona“, wie es der „Sun“mit Blick aufs deutsche Stoßlüften einfallen könnte.

Die deutsche Lust auf frische Luft kommt nicht von ungefähr. „Off‘nes Fenster Tag und Nacht / Hat manchem schon viel Heil gebracht“, lautet ein altes Sprichwort, wobei der Interpreta­tionsspiel­raum dieses Zweizeiler­s reichlich Luft nach oben bietet. Aber schon die Epoche des Sturm und Drang bringt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts frischen Wind in die deutsche Literatur. Ideen der Aufklärung durchwehen althergebr­achte Gedankenge­bäude. „Zurück zur Natur!“fordert Jean-Jacques Rousseau seine Zeitgenoss­en zum Durchatmen auf.

Damit ist es in den Städten jener Tage nicht besonders gut bestellt. Es müffelt gewaltig von der Gosse her, und die Wissenscha­ft hält die antike Theorie der Griechen, dass dadurch grassieren­de Epidemien übertragen werden, keineswegs für erstunken und erlogen. Lust aufs Lüften macht das nicht.

Ein Jahrhunder­t später haust das aufkommend­e Industriep­roletariat in düsteren, engen und hoffnungsl­os überbelegt­en Bauten, es herrscht dicke Luft. Zustände, so katastroph­al, dass in der Weimarer Verfassung das Ansinnen festgeschr­ieben wird, von Staats wegen jedem Deutschen eine „gesunde Wohnung“zu sichern. Die Wandervoge­l-Bewegung

Der britische „Guardian“spricht von einer „nationalen Obsession“

stillt die Sehnsucht nach frischer Luft dort, wo sie zu bekommen ist: außerhalb der Städte. Hitler sind diese frühen Ökos suspekt, lieber sollen deutsche Knaben im Jungvolk zum ersten Mal „eine frische Luft bekommen“. Zugleich lässt der Diktator keinen Zweifel am eigentlich­en Ziel: „…und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“

„Licht, Luft und Sonne für alle“indes avanciert vor 100 Jahren zum Leitgedank­en der berühmten Bauhaus-Architektu­r. Eine gigantisch­e

Wohnreform-Bewegung entsteht. Schon 1935 gründet der Stuttgarte­r Wilhelm Frank eine Firma, die den von ihm erfundenen Dreh-Kipp-Beschlag industriel­l fertigt, durch den sich Fenster nicht nur seitlich öffnen, sondern auch schräg stellen lassen. Der Wohnungsba­u der jungen Bundesrepu­blik folgte ebenfalls von Anfang an gesundheit­spolitisch­en Grundsätze­n mit ausreichen­d Belüftungs- und Besonnungs­möglichkei­ten.

Heute sind die Deutschen eine Nation, in der wenig ungeregelt bleibt – und sie sind nicht zuletzt ein Volk von Mietern. Beides hat dazu beigetrage­n, dass das Lüften zwecks Vermeidung von Schimmelbi­ldung sogar genauesten­s vertraglic­h vereinbart ist. Aber im Grunde werden damit gewisserma­ßen offene Türen eingerannt. Und den wenigen – meist jugendlich­en – Lüftungsge­gnern in diesem Land geht gerade jetzt ihr wichtigste­s Argument flöten: Es sei noch niemand erstunken, aber durchaus schon jemand erfroren. Corona macht’s möglich. Ob Querlüften jedoch bei Querdenker­n hilft, darf bezweifelt werden.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Kippfenste­r gelten der britischen Zeitung „Guardian“als typisch deutsche Errungensc­haft.

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