Kontaktverfolgung mit dem Telefonbuch
Corona-Infizierte und nahestehende Personen müssen schnell über positive Testergebnisse informiert werden. Das ist Aufgabe der Gesundheitsämter. In Aachen ist die Behörde eigens in ein Einkaufszentrum umgezogen. Ein Ortsbesuch.
AACHEN „Hallo, hier ist das Gesundheitsamt“, sagt ein Mann in Bundeswehr-Uniform, den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt. „Sie hatten am Samstag in einem Restaurant Kontakt zu einer infizierten Person.“Einen Schreibtisch weiter führt eine junge Dame ein ähnliches Telefonat – mit ruhiger Stimme erklärt sie einer Mutter: „Ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Tochter als Kontaktperson gilt.“
Es sind diese Gespräche, die Mitarbeiter und Helfer im Aachener Gesundheitsamt momentan fast ununterbrochen führen. 3000 solcher Telefonate sind es am Tag – mindestens.
Um die Anruf-Flut bewerkstelligen zu können, hat das Gesundheitsamt in Aachen expandiert und Flächen eines momentan stillgelegten Einkaufszentrums angemietet, das direkt neben der Behörde steht. „So viel Glück hat natürlich nicht jeder“, sagt Michael Ziemons. Der Gesundheitsdezernent der Stadt steht im Eingangsbereich der Aachen-Arkaden. Das große Gebäude ist verlassen, die Ladenlokale ausgeräumt und dunkel, die Rolltreppen stehen still.
Licht und Geräusche dringen nur aus zwei Geschäften. Eine ehemaliges Kleidergeschäft dient den Mitarbeitern der Kontaktnachverfolgung als Kantine. Ein paar Meter daneben hat das Gesundheitsamt ein Callcenter mit 47 Plätzen eingerichtet. Jetzt versuchen die Mitarbeiter dort, Infizierte und ihre Kontakte möglichst schnell zu erreichen – immer im Wettlauf gegen die stetig steigenden Zahlen. Auf den ersten Blick wirkt der Raum wie eine
Kommandozentrale der Bundeswehr. Uniformierte Soldaten betreten das Callcenter, salutieren zur Begrüßung und nehmen ihre Plätze an den Telefonen ein. „Wir werden von 40 Soldaten der Bundeswehr bei der Arbeit unterstützt“, erklärt Dezernent Ziemons. „Anders wäre das nicht zu schaffen.“
100 der insgesamt 120 angestellten Mitarbeiter des Gesundheitsamtes sind momentan ausschließlich im Corona-Einsatz. Dazu kommen – neben den Bundeswehrsoldaten – noch rund 100 Studenten und 25 Personen aus der Reise- und Veranstaltungsbranche, die als befristete Vollzeitkräfte angestellt worden sind. „So kommen wir pro Tag auf 200 Personen, die zwischen 6 und 20 Uhr am Telefon hängen“, sagt Ziemons.
Eine von ihnen ist Alina Rombach. Ihr Platz liegt ganz hinten im Raum – kurz vor den Pinnwänden mit Hinweisschildern und ausgedruckten Listen, um die Übersicht im Chaos der Kontaktverfolgung zu behalten. „Ich bin einem Aufruf im September gefolgt, weil ich auf der Suche nach einem Nebenjob war“, sagt die Lehramtsstudentin. „Zu Beginn gab es eine Einarbeitung. Es wurde aber auch immer wieder gesagt, dass man am Telefon alles erleben wird – darauf kann man gar nicht vorbereitet werden.“
In den Telefonaten mit den Kontaktpersonen müssen so viele verschiedene Aspekte abgefragt werden: Hatten sie eine Maske auf? War der Kontakt drinnen oder draußen? Waren die Fenster geschlossen, offen oder auf Kipp? Wie lang hat der Kontakt mit der Person gedauert? In Ab- und Rücksprache mit den Ärzten des Gesundheitsamtes wird dann im Einzelfall entschieden, ob und wie lange eine Quarantäne verhängt wird.
Dass die Menschen am Telefon nicht immer freundlich und gelassen reagieren, kann Alina Rombach verstehen. Denn: Infizierte könnten in der Regel noch am selben Tag erreicht werden, bei den Kontaktpersonen kann dieser Anruf aber auch mal zwei, drei Tage später kommen. „Man ist froh über jeden am Telefon, der freundlich ist. Aber ich habe Verständnis für die Leute. Wer drei Tage lang nicht weiß, wie die Lage ist, der wird ungehalten. Man merkt am Telefon die Ungeduld
und die Angst der Menschen.“
Ein Blick auf die Zahlen verrät, warum in Aachen – wie in nahezu jedem NRW-Gesundheitsamt – die Kontaktaufnahme mehrere Tage dauern kann: „Zuletzt kamen pro Tag 300 positive Fälle rein. Jeder Infizierte hat im Schnitt zehn bis 15 direkte Kontaktpersonen“, zählt Dezernent Ziemons auf. 20 bis 40 Minuten dauert ein Gespräch. Um die Menge an Fällen zu bewältigen, sind hochgerechnet mehr als 2000 Arbeitsstunden nötig. „Zuletzt hatten wir viele Schulklassen, Kitagruppen und Fußballmannschaften“, sagt Rombach. „Es dauert, bis wir alle erreicht haben.“
Neben der hohen Zahl an Anrufen gibt es laut Ziemons noch ein weiteres Problem. „Viele Testergebnisse kommen ohne Kontaktdaten zu uns. Allein vergangenes Wochenende hatten wir 200 positive Fälle ohne Telefonnummer, weil entweder der Arzt die Nummer nicht notiert hat oder sie bei der Übermittlung zwischen Labor und Gesundheitsamt abhanden gekommen ist.“Dies erhöhe den Arbeitsaufwand enorm. „Wir haben da mitunter schon zum Telefonbuch gegriffen, um irgendwie die Nummern herauszufinden“, sagt Rombach.
In wenigen Tagen wird das Aachener Gesundheitsamt in dem brachliegenden Einkaufszentrum ein weiteres Mal vergrößert. In der Etage über der Kantine entsteht ein zweites Callcenter mit 60 Plätzen; Ladenflächen wurden zu Büros umfunktioniert. Telefone stehen schon bereit.