Eine stolze Amerikanerin
Die gewählte US-Vizepräsidentin Kamala Harris inszeniert sich als facettenreiche Politikerin und als Stimme des Pragmatismus. Eine Radikale ist sie nicht.
WASHINGTON (FH) Man könne Menschen nicht in Schubladen sortieren, sagte Kamala Harris, als sie skizzierte, mit welcher Leitmelodie sie in den Präsidentschaftswahlkampf 2020 zu ziehen gedachte. Niemand lebe ein Leben, in dem sich alles nur um eins drehe, „das man allein durch die Linse eines einzigen Themas betrachten kann“. Was die Leute wollten, seien Politiker, die der Komplexität jedes einzelnen Lebens gerecht würden.
Es waren Sätze, mit denen die Senatorin aus Kalifornien ihren Platz zu finden versuchte in einem Kandidatenfeld, das von Woche zu Woche größer wurde. Inhaltlich steuerte Harris einen Mittelweg an. Genauer gesagt, sie positionierte sich leicht links von der Mitte. Allerdings nicht so weit links, als dass sie es geschafft hätte, im Vergleich zu Joe Biden, einem klassischen Vertreter des politischen Zentrums, eine eigene, unverwechselbare Marke zu begründen.
Die Tatsache, dass sie ihr Profil nicht zu schärfen vermochte, zwang sie dazu, das Handtuch zu werfen, noch bevor der Kandidatenwettstreit der Demokraten mit dem ersten Kräftemessen bei den Vorwahlen in die Entscheidung ging. Die Ironie der Geschichte: Gerade weil bei Harris vieles im Ungefähren geblieben war, gerade weil ihre konservativen Gegner sie nicht in die Schublade „Radikale Linke“sortieren konnten, gab Biden ihr den Vorzug, als es darum ging, eine Partnerin fürs Finale zu finden. Der oft wiederholte Versuch Donald Trumps, sie als Revoluzzerin zu charakterisieren, dürfte bis auf den harten Kern der Anhänger des Präsidenten keinen Wähler überzeugt haben. Und für manche war es ein Grund mehr, Biden zu wählen, weil erstmals eine Frau mit dunkler Haut für die Vizepräsidentschaft kandidierte.
Wenn es doch so etwas wie eine Marke Harris gibt, dann ist es die
Betonung ihres Facettenreichtums, auch in der Politik. Mit ihrer Biografie erinnert sie ein wenig an den Weltbürger Barack Obama. Ihr Vater Donald Harris, Ökonomieprofessor an der Stanford University, stammt aus Jamaika. Ihre Mutter Shyamala Gopalan, eine auf Brustkrebs spezialisierte Ärztin, wurde in Indien geboren, bevor sie im Alter von 19 Jahren in die USA übersiedelte. Der Name der neuen Vizepräsidentin, Kamala, stammt aus dem Sanskrit und bedeutet Lotusblüte.
Als Kind besuchte Kamala Harris Gottesdienste sowohl in einem Hindutempel als auch in einer schwarzen Baptistenkirche. Oakland, die Stadt an der Bucht von San Francisco, in der sie aufwuchs, war so etwas wie ein Synonym für die aufgewühlte Stimmung der 60er-Jahre, eine Hochburg rebellischer Studenten wie auch der Black-Panther-Bewegung. Die Zeit der Studentenproteste, sagt Harris, habe sie aus der
Perspektive des Kinderwagens erlebt. Ihre Eltern hätten sie oft mitgenommen zu Kundgebungen auf dem Campus der Universität Berkeley.
Bei den Demokraten hat sie sich gleichwohl des Rufs zu erwehren, wie eine stramme Konservative für „Recht und Ordnung“zu stehen. Von 2004 bis 2010 war sie Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, danach wurde sie zur Justizministerin Kaliforniens gewählt, die erste Frau überhaupt auf diesem Posten. Im Umgang mit Kriminalität setzte Harris auf Härte. Beispielsweise kämpfte sie für ein Gesetz, nach dessen Paragrafen die Eltern chronischer Schulschwänzer mit bis zu zwölf Monaten Gefängnis bestraft werden konnten. Die Todesstrafe verteidigte sie auch dann noch, als ein kalifornischer Richter sie 2014 für verfassungswidrig erklärte. Die Liberalisierung von Marihuana lehnte sie ab.
Sie selbst wiederum warnt schon seit Längerem davor, den Bogen zu überspannen, wenn man der Law-and-Order-Fraktion mit eigenen Konzepten begegnet. Es stimme nicht, dass man in bestimmten Wohnvierteln etwas gegen die Polizei als solche habe. „Was die Leute allerdings nicht wollen, sind exzessive Gewalt und Racial Profiling.“Letzteres steht für ein Rasterdenken, das in jüngeren Schwarzen oder Latinos automatisch Verdächtige sieht. Kamala Harris, die Stimme des Pragmatismus: So zumindest versucht sie selbst, sich zu inszenieren.
Nicht nur das lässt an Barack Obama denken. Wie er hat auch sie sich nach nur zwei Jahren im Senat fürs Weiße Haus beworben. Und auch bei ihr stellt sich die Frage nach der Identität. Wie sie die als Tochter von Einwanderern beschreiben würde, wurde sie neulich gefragt. Die Antwort: „Ich sehe mich als stolze Amerikanerin.“