Ideen zum Unterricht auf Distanz
Der Präsenzunterricht an den Schulen steht auf wackligen Füßen. Aber sind Schüler, Lehrer und Eltern nun besser darauf vorbereitet als im März? Das Ausland macht uns vor, wie der digitale Unterricht gelingen könnte.
DÜSSELDORF Das Recht auf Bildung und der Präsenzunterricht stehen über der Pandemie – diese Lektion hat die Politik aus fünf Monaten Homeschooling und Daheimbetreuung der Kleinsten gelernt. Die flächendeckende Schließung von Schulen und Kitas wird wohl die allerletzte Option sein, sollte sich die Infektionslage trotz der wieder eingeführten, weitreichenden Maßnahmen weiter verschlimmern. Gut so. Aber zum Blick in die Realität gehört auch die Tatsache, dass die Aussage „Die Schulen bleiben offen, so lange wie eben möglich“nicht in Stein gemeißelt sein kann. Es ist die Frage angebracht: Was wäre denn, wenn der schlimmste Fall eintritt und die Bildungsstätten nun doch demnächst wieder flächendeckend schließen müssten? Angesichts der aktuellen Infektionslage ist diese Entwicklung alles andere als abwegig. Dann müsste die ehrliche Antwort lauten: Es wäre die gleiche unbefriedigende Situation für Schüler und Eltern wie in den Monaten von März bis August.
Aber wie könnte er aussehen, der ideale digitale Fernunterricht? Welche Aspekte müssten beachtet werden, damit das Lehren und Lernen abseits der Schule zumindest befriedigend gelingen kann?
Die von Pädagogen und Bildungsexperten einhellig geforderte Voraussetzung ist einfach umzusetzen: Kinder brauchen eine Struktur. Auch im Homeschooling machen feste Lern- und Pausenzeiten Sinn, am besten in einem ähnlichen täglichen Rhythmus. Das beginnt mit dem Aufstehen. Schulunterricht findet ja auch nicht montags am Vormittag und Dienstag dann erst nachmittags statt. Dabei muss nicht in Originalkopie der aktuelle Stundenplan gelten. Aber feste Lernzeiten und -ziele sollten klar definiert sein. So bleibt jedem Schüler die Möglichkeit, sein eigenes Lerntempo zu finden, ohne völlig aus dem Rhythmus zu kommen. Selbstreguliertes Arbeiten ist erklärtes Ziel des Mininsteriums für Schule und Bildung in NRW.
Auf keinen Fall darf digitaler Unterricht eine Eins-zu-Eins-Übertragung des Präsenzunterrichts in die Videokonferenz sein. Das betont auch der Rat für kulturelle Bildung. Digitaler Frontalunterricht, bei dem die Schüler als passive Zuhörer vor dem Bildschirm sitzen, wäre die denkbar schlechteste Lösung.
Die Mischung macht’s. Es muss durchaus nicht schlecht sein, Lernmaterial per E-Mail oder Lernplattform zu verschicken. Aber besonders für ältere Schüler muss natürlich darüber hinaus noch mehr passieren. Schlechte technische Ausstattung
und ein zu langsames Netz sind dabei keine Ausreden. Auch mit den aktuellen Möglichkeiten lassen sich allerhand digitale Angebote umsetzen, rät der Digitale Bildungspakt. Beispiele seien etwa virtuelle Lernplattformen in der Cloud oder der sogenannte Flipped Classroom, bei dem kurze Lernvideos den typischen Frontalunterricht im Klassenzimmer ersetzen. Die Lernenden eignen sich den Stoff zu Hause an und haben so im späteren Frontalunterricht mehr Zeit, das Gelernte anzuwenden. Besonders beliebt sind mittlerweile auch „Padlets“. Diese digitalen Pinnwände werden von vielen Lehrkräften genutzt, um interaktive Lerninhalte zusammenzutragen.
Die Lehrer bleiben der Dreh- und Angelpunkt für ein erfolgreiches digitales Lernen. Für sie haben Bund und Länder mittlerweile unzählige Bildungsprogramme und Möglichkeiten der Weiterentwicklung aufgelegt. Denn die Pädagogen müssen wissen, welche Lernvideos und Apps hilfreich sind und welche nicht. Sie müssen ihre Schüler in Videochats vernetzen können und digitale Zusammenarbeit in Gruppen organisieren. Sie müssen sich darum kümmern, dass der soziale Zusammenhalt in der Klasse zumindest virtuell stabil bleibt.
Und bei all diesen fachlichen und sozialen Anforderungen dürfen sie auch den einzelnen Schüler nicht aus dem Blick verlieren. Dies könnte etwa mit digitalen Sprechstunden geschehen, in der individuelle Leistungen erörtert werden und der Schüler oder die Schülerin gegebenenfalls auch persönliche Probleme ansprechen kann.
Mit solchen Ansätzen könnte der Wandel gelingen. Die Weichen dafür muss die Politik stellen. Dabei würde der Blick über den Tellerrand helfen: Länder wie Dänemark oder Estland sind uns darin um Jahrzehnte voraus: In Dänemark etwa gehören digitale Medien seit 20 Jahren fest zum alltäglichen Unterricht. Die internationale Studie ICILS (International Computer and Information Study) ermittelte, dass 91 Prozent der Schüler in Dänemark täglich digitale Medien im Unterricht nutzen, während in Deutschland lediglich vier Prozent eine tägliche Mediennutzung im Schulalltag angaben. „Die dänischen Schulen sind damit flächendeckend auf digitalen Unterricht eingestellt“, schreibt der Verein Bitcom.
Als die Pandemie die Welt überrollte, sind dort alle Beteiligten mühelos vom Klassenzimmer in den Fernunterricht gewechselt. Darüber hinaus hat sich die dänische Regierung laut Bitcom aktiv dafür eingesetzt, dass Verlage kostenlose
Lizenzen für ihre Online-Angebote vergeben – mit Erfolg.
Auch in Estland gehört multimedialer Unterricht schon lange zum Schüleralltag. Bereits 1999 waren laut Bitcom alle Schulen im Land ans Internet angeschlossen. Für sie macht es kaum einen Unterschied, ob sie in der Schule oder zu Hause lernen. „Schools will be moved to distance learning“, hieß es dazu lapidar vom estnischen Schulministerium. Einfach übersetzt: „Schulen wechseln ins Lernen auf Distanz“.
Wir können also ganz praktische Dinge von unseren europäischen Nachbarn lernen. Aber vor allem zunächst auch ein grundsätzliches Umdenken: Digitalisierung ist kein lästiges Pflichtprogramm, um das man sich kümmern muss, nur um international nicht endgültig den Anschluss zu verlieren. Sie ist weder alleiniger Heilsbringer für die Bildung noch ihr Untergang. Wir sollten sie vielmehr als Chance begreifen. Als ein zusätzliches Angebot, das unseren Alltag und unsere Art zu Lernen sinnvoll ergänzen kann und nicht komplett ersetzen muss. Wenn nicht alle Schüler zur gleichen Zeit am gleichen Ort in gleichem Tempo den gleichen Inhalt lernen müssen, fördert das auch die individuelle Entwicklung des Einzelnen. Das nutzt letztlich uns allen.