Vom Gastarbeiterkind zum Medizinstar
Die Story hat das Zeug für Hollywood: Der Sohn eines Ford-Arbeiters aus Köln und seine Frau entwickeln den hoffnungsvollen Impfstoff-Kandidaten. Unter die 100 reichsten Menschen im Land haben sie es jetzt schon geschafft.
DÜSSELDORF Es klingt wie aus einem Märchen: Ugur Sahin wuchs im Südosten der Türkei auf und kam mit vier Jahren nach Deutschland – nach Köln, wo sein Vater als Gastarbeiter in den Ford-Werken beschäftigt war. Nun könnte er zusammen mit seiner Frau Özlem Türeci die Welt vom Coronavirus befreien. Gemeinsam haben sie in Mainz das Unternehmen Biontech gegründet, das als erster westlicher Hersteller vielversprechende Ergebnisse einer Impfstoff-Studie veröffentlichte.
Beide studierten Medizin, lernten sich in der Uniklinik Homberg im Saarland kennen und gingen in die Forschung. Türecis Vater war Landarzt in Niedersachsen, Medizin war schon immer ihr Thema. 2008 brachte das „Traumpaar der Biotechnologie“seine Firma an den Start, die zunächst an Mitteln gegen Krebs forschte. Aufbereitete Botenstoffe aus Zellen – sogenannte Messenger-RNA – sollten versuchen, bei den Kranken Angreifer gegen die Krebszellen zu erzeugen.
Als das Coronavirus ausbrach, schaltete das Paar schnell um. Schon nach ersten Studie zu Wuhan lenkte es die Ressourcen der Firma in die Entwicklung des Impfstoffes. Das Prinzip bleibt das gleiche: Nun sollen die Botenstoffe die menschlichen Zellen dazu bringen, Angreifer gegen das Coronavirus zu entwickeln. Die beiden nannten ihr Projekt „Lightspeed“, Lichtgeschwindigkeit. Nichts anderes als der Impfstoff zählt seitdem bei Biontech.
Wie in fast jedem guten Märchen gibt es auch eine gute Fee. Bei Biontech waren es sogar zwei: Thomas und Andreas Strüngmann. Die Zwillinge hatten einst Hexal gegründet, den zweitgrößten deutschen Generika-Hersteller, und für Milliarden an Novartis verkauft. Einen Teil des Erlöses steckten sie in Biontech und ermöglichten so den Ausbau der Firma, die heute 1300 Mitarbeiter hat. Auch die Gates-Stiftung stieg ein.
Damit verlief der Aufstieg ähnlich wie der von Curevac, dem Tübinger Konkurrenten, der ebenfalls an einem Impfstoff auf Basis der Messenger-RNA arbeitet. Auch hier verfolgte ein junger Wissenschaftler eine radikal neue Idee. Auch hier gab es eine gute Fee: SAP-Gründer Dietmar Hopp, der einstieg und „Nein“sagte, als Trump angeblich Curevac aus Deutschland wegkaufen wollte. Im weltweiten Rennen hat Biontech die Nase vorn, gefolgt von den Konkurrenten Moderna (USA) und Astrazeneca (Großbritannien). Curevac ist zwar auch in der entscheidenden Test-Phase, aber noch nicht so weit. Zwei Faktoren gelten als Ursache für Biontechs Erfolg: Zum einen haben Sahin und Türeci mit Pfizer früh einen Partner an Bord geholt, der neben Geld das Know-how eines globalen Pharmakonzerns mitbringt. Zum anderen erkannten sie schnell ihre Chance in der Pandemie und verzettelten sich nicht mit internen Querelen: Im Juli startete Biontech eine Studie mit 30.000 Probanden, deren Zwischenstand nun lautet: Der Kandidat BNT162 biete einen mehr als 90-prozentigen Schutz vor Covid-19, schwere Nebenwirkungen zeigten sich nicht.
Börsen lieben solche Märchen: Die Biontech-Aktie legte am Montag in den USA um fast 14 Prozent zu, Dienstag ging es weiter. Was für ein Aufstieg: Biontech war im Oktober 2019 mit 13 Euro an der Börse gestartet und liegt nun bei 92 Euro. Weltweit zogen die Kurse zeitweilig an. Ein wirksamer Impfstoff ist wie der Zaubertrank im Märchen: Global verimpft, bedeutet er das Ende der Lockdowns und die Rückkehr der alten Freiheit.
Entsprechend reagierte die Politik. Während Trump argwöhnte, dass Biontech/Pfizer die Studiendaten absichtlich erst nach der USWahl verkündet hätten, sicherte sich
die EU-Kommission die Lieferung von bis zu 300 Millionen Impfstoffdosen. Allein Deutschland möchte bis zu 100 Millionen Dosen bekommen. Für eine Immunisierung sollen zwei Impfdosen pro Person nötig sein.
In Mainz dürfte man das Glück kaum fassen – das Glück für die Wissenschaft und fürs Geschäft. Dabei liegt die Biontech-Zentrale an einer Straße, die sich ein Erzähler nicht besser hätte ausdenken können: „An der Goldgrube“lautet die Adresse. Wann immer Türeci und Sahin, die gerne per Fahrrad ins Labor fahren, an dem Schild vorbeikamen, haben sie es womöglich als Verheißung gelesen. Der 55-jährige ist Vorstandschef, seine drei Jahre jüngere Frau Medizin-Vorstand. Sie halten 18 Prozent der Biontech-Aktien und schafften es bereits in die Forbes-Liste unter die 100 reichsten Deutschen, mit einem Vermögen von 3,3 Milliarden Euro liegen sie auf Platz 93.
Von Vereinnahmungen durch einen Staat wollen sie nichts wissen: „Kooperation ist ein absoluter Schlüssel für diese globale Herausforderung“, hatte Sahin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“gesagt. „Es gibt gar keine Diskussion, ob eine Impfung nur für China, Deutschland oder Amerika zur Verfügung steht.“Wenn nun die Studien der Überprüfung durch die Behörden standhalten, wenn die Produktion hochgefahren werden kann, wird das Märchen komplett. Wie die Forscher mit den Hoffnungen der Welt umgehen? „Im Alltag geht das unter“, sagte Sahin unlängst. „Wir machen unsere Arbeit.“