„Das Vorgehen der Airlines ist skandalös“
Deutschlands Verbraucherschützer-Chef über fehlende Rückzahlungen für Fluggäste und die Aussicht auf ein neues Konjunkturpaket.
Herr Müller, sollten die Verbraucher in Deutschland in diesem Jahr darauf verzichten, Reisen in der Weihnachtszeit zu buchen?
MÜLLER Es gibt viele gute Gründe, in den kommenden Monaten auf das Reisen zu verzichten. Wer es unbedingt doch darauf anlegen will, sollte zumindest auf kurzfristige Storno-Möglichkeiten achten. Viele Reisebüros und Internetportale bieten das inzwischen an.
Zugleich warten viele Kunden von Fluggesellschaften noch immer auf Rückerstattungen von Airlines für längst bezahlte Flüge. Wie können die sich wehren?
MÜLLER Es braucht endlich eine neue Gesetzgebung, um der Vorkasse-Praxis im Reisesektor ein Ende zu setzen. Es kann nicht sein, dass Kunden von Airlines seit Monaten auf teils mehrere hundert Euro warten und völlig unklar ist, wann sie das Geld jemals wiedersehen werden. Dieses Vorgehen der Unternehmen ist peinlich und skandalös – vor allem, wenn sie mit Milliardenhilfen der Steuerzahler unterstützt wurden.
Sind Sie im Namen der Verbraucher bereits gegen Reiseunternehmen juristisch vorgegangen?
MÜLLER Ja, wir haben eine Reihe von Reisebüros, Reiseveranstaltern und Airlines zur Unterlassung aufgefordert. Geltendes Recht wurde schlichtweg nicht eingehalten, indem Rückzahlungen von gebuchten Reisen oder Flügen über Wochen und Monate nicht erfolgten oder nur Gutscheine statt einer Rücküberweisung angeboten wurden. Es gilt aber auch in der Krise ein Rückzahlungsanspruch. Dass manche Kunden bis heute auf die Rückerstattung warten, ist ein Unding. Unter den Unternehmen, die wir schließlich sogar verklagen mussten, sind namhafte Anbieter, darunter die TUI oder auch Easyjet und die Airline Condor.
Was muss die Bundesregierung also künftig ändern?
MÜLLER Wir zählen in diesem Jahr seit Januar das Zwanzigfache an Beschwerden über Flug- und Reiseunternehmen im Vergleich zu normalen Jahren. In absoluten Zahlen waren das über 80.000 Fälle. Das ist zu einem großen Teil dem Ärger um nicht oder zu spät erfolgte Rückerstattungen von Vorkassezahlungen nach Ausbruch der Corona-Pandemie geschuldet. Wir fordern, dass künftig ein Flugticket erst wenige Tage vor dem Flugantritt bezahlt werden muss.
Viele Verbraucher ringen zudem mit hohen Fixkosten, die sie mit geringeren Einnahmen durch Kurzarbeit kaum werden decken können. Wie kann ihnen geholfen werden, um sie vor dieser Schuldenfalle zu bewahren?
MÜLLER Wir müssen auch die Nachfrageseite stärken. Das heißt: Die Bundesregierung sollte nicht nur die Wirtschaft unterstützen, auch die Kaufkraft leidet und das ist ein Problem. Wir brauchen einen Rettungsschirm für Verbraucher, um die Menschen besser vor zusätzlichen Kosten zu schützen. Eine richtige Maßnahme wäre es, dass sich langfristige Verträge für das Handy oder das Fitnessstudio nicht einfach wieder für lange Zeit automatisch verlängern können. Seit März 2019 ringt die Bundesregierung ohne Ergebnis in der Sache. Sie hätte längst ein Gesetz verabschiedet haben können, das jetzt vielen Menschen sehr helfen würde. Das gilt auch für viel zu hohe Inkassoforderungen, die reguliert werden müssen. All das gehört in einen Rettungsschirm für Verbraucher,
den wir in dieser Lage fordern und der den Staatshaushalt nicht belasten würde.
Kritiker eines solchen Rettungsschirms halten Ihnen vor, damit die Unternehmen zu belasten. Rechnen Sie damit, dass es ein weiteres Konjunkturpaket braucht?
MÜLLER Ich gehe fest davon aus, dass die Bundesregierung ein drittes Konjunkturpaket zur Unterstützung der Wirtschaft schnüren wird. Spätestens um Weihnachten wird deutlich werden, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen werden. Mit einem weiteren Paket müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher stärker unterstützt werden.
Inwiefern?
MÜLLER Verbraucherinnen und Verbraucher
müssen deutlich entlastet werden. Die teure und komplizierte Mehrwertsteuersenkung hat sicherlich vielen Unternehmen geholfen, aber zu wenig den Bürgerinnen und Bürgern. Die Strompreise müssen runter, indem die Netzentgelte und die EEG-Umlage für Verbraucher deutlich gesenkt werden. Und auch der Kinderbonus hilft, den sollte es ein zweites Mal geben.
Vor dem zweiten Konjunkturpaket gab es Debatten um Prämien für saubere Dieselfahrzeuge. Wird diese Debatte wiederkommen?
MÜLLER Das hoffe ich nicht. Das wäre aus zwei Gründen völlig falsch: Die Absatzzahlen der deutschen Autohersteller sind dank des wieder sehr starken China-Exports nicht so schlecht. Und zweitens würde sich eine solche Verbrennerprämie in kurzer Zeit als trojanisches Pferd für die deutschen Kunden entpuppen.
Wie meinen Sie das?
MÜLLER Die Klimaschutzziele von Paris gelten unabhängig von der Pandemie. Die nächste Bundesregierung wird die Umsetzung der Klimaschutzziele Deutschlands sicher weiter verschärfen – etwa, indem der CO2-Ausstoß in der Kfz-Steuer stärker berücksichtigt würde. Wer sich jetzt mit einer Verbrennerprämie einen neuen Diesel kauft, wird dann womöglich ein teures Problem in der Garage stehen haben. Das sollten die Auto-Ministerpräsidenten nicht verantworten.
Schauen wir auf die Schulen: Dort wird in dieser zweiten Infektionswelle wieder auf Digitalunterricht gesetzt. Wie sieht es mit der Qualität des Lehrangebots für Schüler aus? MÜLLER Es ist völlig richtig, dass die Schulen so lange wie möglich offen gehalten werden. Die letzten Monate haben allerdings gezeigt, dass an Schulen Defizite in Fragen der Digitalisierung bestehen. Beim Homeschooling galt wohl oft das Prinzip „einfach mal machen“. Digitaler Unterricht
sollte den hohen Standards für Schulbücher in nichts nachstehen. Es gibt erste Ansätze, Pädagogen mit Materialdatenbanken zu unterstützen. Doppelstrukturen zwischen Bund und Ländern oder Konkurrenzangebote sind da nicht förderlich. Wir brauchen gute und schnelle Lösungen und Angebote.
Wie sieht es bei der Hardware aus? MÜLLER Es ist richtig, dass die Bundesregierung mit dem Corona-Sofortprogramm des Digitalpakts Schule die Anschaffung von Endgeräten mit 500 Millionen Euro für Schülerinnen und Schüler gefördert hat, die nicht die entsprechenden Mittel dafür haben.
Das Programm sollte aus Ihrer Sicht aufgestockt werden?
MÜLLER Wichtig ist, dass Kinder, die eine digitale Ausstattung benötigen, diese auch bekommen. Die Förderung digitaler Infrastruktur und Digitalkompetenzen ist im Übrigen eine kontinuierliche Aufgabe und sollte als solche auch fortgeführt werden.