„Unvorbereitet in die zweite Welle geschlittert“
Die Doppelspitze der NRW-Grünen rechnet mit der Politik der Landesregierung ab und fordert eine Studie zu Luftfilteranlagen.
DÜSSELDORF Am Sonntag findet der Landesparteitag der Grünen statt. Coronabedingt wird es ein reines Online-Event sein. Auch dieses Interview führen Felix Banaszak und Mona Neubaur digital per Videokonferenz.
Die Corona-Zahlen sind dramatisch. Hat die Landesregierung zu früh zu stark gelockert?
BANASZAK Wir erleben die zweite Welle – auch in den Nachbarländern. Was man der Regierung Laschet ankreiden muss: Sie wirkte einigermaßen überrascht davon, dass auf den Sommer der Herbst folgte. Wir sind weitgehend unvorbereitet in die zweite Welle hineingeschlittert, weil zu lange das Prinzip Hoffnung galt.
Inwiefern?
BANASZAK Der derzeitige Lockdown hätte abgemildert werden können, wenn man die Wirtschaft, die Kultur, die Behörden – vor allem aber Schulen und Kitas – besser vorbereitet hätte. All dies ist kaum passiert. NEUBAUR Die Regierung hat viel zu lange der mangelnden personellen Ausstattung der Gesundheitsämter wenig entgegengesetzt. Diese sind aber der entscheidende Faktor bei der Nachverfolgung. Zudem fehlt bis heute eine gemeinwohlorientierte Teststrategie. Der Fußballprofi sollte bei den Testungen nicht prioritär behandelt und gleichzeitig Lehrer sowie Erzieher links liegengelassen werden. Die Schwerpunkte sind an etlichen Stellen falsch gesetzt.
Düsseldorf musste gerade seine Maskenpflicht kassieren. Ein Versäumnis auch der Landespolitik? NEUBAUR Wenn die Landesregierung weniger auf dem Verordnungsweg unterwegs wäre und stattdessen stärker das Parlament einbeziehen würde, hätten wir gerichtsfestere Regelungen – dank der Debatten, kritischer Nachfragen und Expertenanhörungen.
Dann wäre der Verfahrensweg aber auch länger.
BANASZAK Stimmt. Man muss doch von einer Landesregierung erwarten, mal länger als vier Wochen im Voraus zu planen. Es wäre möglich und nötig gewesen, über den Sommer
verschiedene Szenarien zu entwickeln, mit denen man frühzeitig auf den erwartbaren Anstieg hätte reagieren können. Da wäre eine parlamentarische Beteiligung problemlos möglich gewesen. Aber Bund und Land handeln bislang weitgehend reaktiv und zu wenig vorausschauend.
Die Bundesbildungsministerin hat eine Maskenpflicht auch an Grundschulen angeregt. Richtig? BANASZAK Ich bin skeptisch, dass eine solche Pflicht das Problem löst. Die Differenzierung nach Altersstufen
halte ich für nachvollziehbar und epidemiologisch angemessen. Die Politik muss Lernen auf Distanz und Präsenzunterricht im Wechsel möglich machen, um Schulschließungen zu verhindern. In dieser Situation das Solinger Modell zu verbieten, ist fahrlässig. Solche Konzepte haben wir schon im Frühjahr gefordert. Und es rächt sich jetzt, dass das Land nicht schon im August auf unseren Vorschlag, Luftfilteranlagen anzuschaffen, eingegangen ist. Die sind jetzt sehr viel schwieriger und nur zu einem sehr viel höheren Preis verfügbar. Ehe die 50 Millionen Euro ausgegeben sind, ist der Winter schon wieder vorbei. NEUBAUR Warum gibt es bis heute keine unabhängigen Studie zur Wirksamkeit von Luftfilteranlagen? Die Mittel dafür hätte Minister Laumann. Gäbe es belastbare Erkenntnisse, hätte das nicht nur Folgen für Schulen, Kitas und Pflegeheime, sondern auch für die Gastronomie oder die Kultur. Wir werden mit diesem Virus noch über November hinaus leben müssen.
Der Bund hat neue Corona-Soforthilfen für den November in Höhe von neun Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Bei der Zahlung der Soforthilfen im Frühjahr gab es anschließend viel Ärger. Zuversichtlich, dass es diesmal besser läuft? NEUBAUR Die Vorbehalte der Gastronomen, Hoteliers und Soloselbstständigen dürften groß sein, weil es bisher so viele schlechte Erfahrungen gab. Aber die Maßnahme an sich ist zu begrüßen. Wir wollen auch in Zukunft nicht nur in Gastroketten einkehren, sondern im inhabergeführten Restaurant um die Ecke. Wir wollen unsere Städte lebenswert halten. Wir brauchen zusätzlich zu den Soforthilfen nach dem Vorbild Baden-Württembergs auch in NRW eine kontinuierliche, monatliche Unterstützung für Soloselbstständige und Kulturschaffende. Unsere Bühnenkultur muss erhalten bleiben. Wenn sich die NRW-Kulturministerin hinstellt und sagt, man dürfe in der Kultur nicht immer nur „Extrawürste braten“, dann ist das ein Schlag ins Gesicht all jener, die gerade ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.
Querdenken meldet zunehmend auch in NRW Demonstrationen an. Für wie groß halten Sie die Gefahr, die von dieser Bewegung ausgeht? NEUBAUR Rechtsextreme nutzen die Demos klar als Forum – übrigens an diesem Wochenende auch geplant in Düsseldorf. Dort taucht die Bruderschaft Deutschland auf und nutzt sie für ihre Zwecke. Das Versammlungsrecht muss auch in Pandemiezeiten gewährleistet sein, aber es muss durch Auflagen klare Spielregeln geben, und deren Einhaltung muss durchgesetzt werden. BANASZAK Und jeder, der legitime Kritik an einzelnen Eindämmungsmaßnahmen üben will, sollte sich fragen, mit wem er da eigentlich marschiert.
Ihr Landesparteitag fällt mitten in die Hochphase der zweiten Welle. Warum verschieben Sie nicht? NEUBAUR Die Menschen erwarten doch gerade jetzt, dass Politiker ihnen Problemlösungen präsentieren. Darüber wollen wir am Sonntag online diskutieren. Natürlich spielt die Pandemie dabei eine zentrale Rolle. Etwa die Frage, wie das Land die Kommunen finanziell besser unterstützen muss. Denn diese sind das Rückgrat der Pandemiebekämpfung und benötigen Mittel für Zukunftsinvestitionen.
BANASZAK Wir haben uns für einen digitalen Parteitag entschieden, weil wir nicht ein Jahr lang auf einen regen Austausch verzichten wollen. Es kann ja nicht sein, dass für die Pandemiezeiten Neubaur und Banaszak sagen: ,Da geht’s lang!‘ Und das war’s. Demokratie lebt von der Debatte, auch innerparteilich. Die ermöglichen wir jetzt. Der Landesparteitag und eine Woche später der Bundesparteitag finden deshalb online statt. Aber am Ende wäre natürlich ein Präsenzparteitag die schönere Veranstaltung.
Die Pandemie hat grüne Themen wie den Klima-Wandel in den Hintergrund gedrängt. Wie problematisch ist das für Sie?
NEUBAUR Ich glaube, dass das so nicht richtig ist. Nehmen Sie unser wirklich gutes Abschneiden bei den Kommunalwahlen. Da haben gerade die grünen Themen – Umweltund Klimaschutz, Verkehr, soziales Miteinander – den Ausschlag gegeben, und die bleiben uns ja klar für die Zeit nach der Pandemie erhalten.