Ein Land testet und schottet sich ab
China hat die Pandemie im eigenen Land eingedämmt. Die Gesellschaft zahlt dafür einen hohen Preis.
PEKING Der Craft-Beer-Pub ist zu später Abendstunde gut gefüllt, der Fußmassage-Salon hat seine Pforten geöffnet, und im Ecksupermarkt drängen sich die Kunden dicht an dicht zwischen Obstregalen. Ein Land fast wie im Normalzustand. Aus der Ferne lässt sich nur mit Staunen auf die täglichen Corona-Infektionszahlen in China schauen: Während in Europa eine zweite Covid-Welle rollt, spielt das Ansteckungsrisiko in weiten Teilen der Volksrepublik bereits seit Monaten keine Rolle mehr. Zwar treten nach wie vor alle paar Wochen lokale Infektionen auf, wie derzeit etwa in der westchinesischen Stadt Kashgar. Doch in absoluten Zahlen bleiben diese meist im zweistelligen Bereich – und sind damit für eine Bevölkerung von rund 1,4 Milliarden geradezu verschwindend gering. Selbst in Peking ist längst Alltag eingekehrt.
Das Erfolgsrezept der chinesischen Regierung beruht nicht auf geschönten Statistiken. Wer die drakonischen Maßnahmen während des Frühjahrs in China vor Ort mitverfolgt hat, dürfte wohl keine Zweifel an deren Effizienz hegen. Über mehrere Wochen haben die Behörden weite Landesteile in einen Lockdown versetzt, der nur wenig damit zu tun, was derzeit in Deutschland oder Österreich passiert: Millionen von Chinesen in der am stärksten betroffenen Provinz Hubei standen wortwörtlich hinter versiegelten Wohnungstüren.
Im Rest des Landes wurde die Bewegungsfreiheit ebenfalls drastisch eingeschränkt. Und eine 14-tägige Isolation ist ebenfalls nicht vergleichbar mit ihrem europäischen Pendant, wo das Ordnungsamt per Telefonanruf kontrolliert. In China haben die Nachbarschaftskomitees oftmals Sicherheitskameras vor der Wohnungstür installiert, oder aber man wurde gleich in ein staatlich zugewiesenes Hotelzimmer transferiert.
Ebenso wichtig wie die staatlichen Maßnahmen war jedoch die Disziplin der Bevölkerung, die im öffentlichen Raum praktisch ausnahmslos Masken getragen hat. Selbst in
Peking, über drei Monate nach den letzten Ansteckungen im Stadtgebiet, trägt noch immer das Gros der Bewohner einen Gesichtsschutz auf der Straße.
Wann immer nun ein lokaler Infektionsherd auftaucht, wie zuletzt in Qingdao, Wuhan oder Kashgar, gehen die Behörden nach dem selben Schema vor: Sie sperren die betroffenen Wohnanlagen für zwei Wochen zu und lassen sämtliche – oftmals mehrere Millionen – Stadtbewohner innerhalb weniger Tage auf das Virus testen. Bislang konnte auf diesem Wege eine überregionale Ausbreitung verhindert werden. Natürlich lassen sich solch drakonische Maßnahmen weder in einer freien Demokratie umsetzen, noch mögen sie wünschenswert erscheinen. Ihre
Effizienz allerdings hat sich in der Volksrepublik bewährt.
Dennoch zahlt die Gesellschaft einen hohen Preis für den epidemiologischen Erfolg. Das Land hat sich über alle Maßen abgeschottet; eine Entwicklung, die wohl auch über die Corona-Krise hinaus Bestand haben wird. Dazu gehört nicht nur die gewünschte wirtschaftliche Autarkie. Die Bevölkerung wird auch immer stärker vom freien Informationsfluss des globalen Internets abgeschnitten, die Zensurbehörden haben ihre Richtlinien in den letzten Monaten zunehmend verschärft. Vor allem aber an den Landesgrenzen verschließt sich China dem Ausland mit einer Vehemenz, die im internationalen Vergleich nahezu einmalig ist: Selbst langjährige Bewohner können nur in die Volksrepublik zurückkehren, wenn sie vor dem Abflug sowohl einen negativen Coronatest vorweisen können als auch einen Antikörpertest. Wer also jemals am Virus erkrankt ist, kann auf unbestimmte Zeit nicht in seine Heimat zurückkehren. In Großbritannien und Belgien helfen mittlerweile auch keine negativen Testresultate mehr, weil diese von den chinesischen Botschaften nicht anerkannt werden. Wahrscheinlich ist es angesichts der steigenden Infektionszahlen nur mehr eine Frage der Zeit, bis das Einreiseverbot bald auch auf ganz Europa ausgeweitet wird.