Den Opfern ein Gesicht geben
Elisabeth Strysio gelangte an Aufnahmen der jüdischen Familie Bruch. Sie werden Teil der Virtuellen Gedenkstätte.
DÜLKEN Noch heute kann sich Elisabeth Strysio gut daran erinnern, wie sie Irmgard Bruch kennengelernt hat. „Damals bin ich so zwölf Jahre alt gewesen“, sagt die 92-Jährige – Irmgard war also etwa 15. Wie eigentlich jeden Mittag besucht die junge Elisabeth die Cousine ihrer Mutter, die im Anbau der Villa der jüdischen Familie Bruch an der Waldnieler Straße in Dülken lebt. Die Cousine erzählt immer so schöne Geschichten, deshalb ist das Mädchen gerne dort. Weit hat es Elisabeth nicht, sie wohnt in der Nähe. Als sie an jenem Tag nach dem Besuch aus dem Anbau kommt und wie immer am Tor zur Villa vorbei geht, hört sie eine Stimme. „Können Sie nicht ein bisschen bleiben? Ich bin hier so alleine?“, ruft da ein Mädchen vom Grundstück aus – es ist Irmgard. „Komm’ doch mit mir zum Spielen“, bietet Elisabeth an, doch Irmgard erwidert traurig: „Das geht nicht, ich darf nicht hinter das grüne Tor.“Elisabeth beschließt, dass sie dann eben zu ihr aufs Grundstück geht. Die beiden Mädchen freunden sich an, spielen in den kommenden zwei Jahren viel zusammen. Dann ist die Familie Bruch plötzlich weg. „Die wurden abgeholt“, hört Elisabeth irgendjemanden sagen.
Was den einzelnen Familienmitgliedern zustieß, wie verzweigt die Familie Bruch ist, wie die Bruchs in Dülken lebten: All das tragen derzeit die Mitglieder des Viersener Vereins „Förderung der Erinnerungskultur. Viersen 1933-45“zusammen. Noch in diesem Jahr sollen die Recherche-Ergebnisse in die Virtuelle Gedenkstätte, die der Verein mitbetreut, eingefügt werden. Ein Zeitzeugen-Interview mit Elisabeth Strysio ist auf der Internetseite schon jetzt zu finden, bald sind dort auch Familienfotos der Familie Bruch zu sehen: Strysio ist vor ein paar Monaten über Bekannte an die Bilder gelangt, kaufte sie an und stellte die Motive nun dem Verein zur Verfügung. „Das ist wirklich eine tolle Leistung, den ermordeten jüdischen Bürgern und Bürgerinnen aus Viersen wieder ein Gesicht zu geben“, sagt Julietta Breuer, stellvertretende Vereinsvorsitzende.
Nach Recherchen des Vereins wurden Irmgard Bruch, ihre Eltern Berta und Leo, die in Dülken einen Viehhandel mit Metzgerei betrieben, am 11. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Irmgards Brüder Erich und Herbert waren bereits nach der Reichspogromnacht in das Konzentrationslager nach Dachau deportiert, dort aber 1939 mit der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen, wieder frei gelassen worden. Erich flüchtete in die USA. Herbert wanderte nach Australien aus. Im Januar 2019 war sein Nachfahre Adrian von dort nach Dülken gereist, um mehr über die Geschichte seiner Familie zu erfahren. Dort traf er auch Vertreter des Vereins „Förderung der Erinnerungskultur“.
Elisabeth Strysio erinnert sich vor allem an Berta und Irmgard Bruch. „Die Mutter hatte Angst um ihre Tochter“, sagt Strysio – deshalb sollte das Mädchen in der Nähe bleiben. „Die Irmgard war wirklich ein liebes nettes Mädchen“, sagt die 92-Jährige. „Sie war bildhübsch und hatte lange schwarze Haare.“Mit zwei Freundinnen sei sie oft bei den Bruchs im Garten gewesen. Die Mädchen spielten Verstecken oder Hinkeln, ließen Murmeln kullern – „wenn es regnete, konnten wir ins Gartenhaus“, sagt Strysio. Berta Bruch sei sehr glücklich gewesen, dass ihre Tochter Spielkameradinnen hatte und endlich wieder fröhlich war. „Am dritten Tag, an dem Irmgard und ich miteinander spielten, sagte sie mir: ,Meine Tochter hatte seit Monaten nicht mehr gelacht’.“Die Mutter sei sehr liebenswürdig gewesen, „sie brachte uns Eis, auch mal Pudding und Kakao“. Und dann waren die Bruchs weg.
Strysio erzählt: „Eines Tages kamen vier Männer zur Villa von Bruchs und klingelten. Niemand öffnete und Irmgard kam nicht heraus. Jemand sagte: ,Die sind abgeholt worden!’ Die Männer sagten: ,Wir kommen heute Nachmittag wieder, dann stecken wir die Bude in Brand, damit, wenn die zurückkommen, kein Stein mehr auf dem anderen steht.’“Der Mann ihrer Cousine habe das verhindern können, er habe auch „die guten Sachen“der Familie Bruch gerettet. „Er machte zwei längliche Zinkwannen mit den Sachen aus dem Haus voll. Diese Wannen lagerte er dann jahrelang in seinem Keller.“Zwei Jahre nach dem Krieg sei Herbert Bruch nach Dülken gekommen, um das Haus an der Waldnieler Straße zu besichtigen. „Von den Wertsachen in den Wannen wollte er nichts haben“, sagt Strysio. Er habe betont: „Meine Eltern und meine Geschwister habe ich in meinem Herzen.“Viele Wertsachen seien mit Bruchs Erlaubnis verkauft worden. Die Fotos blieben in Dülken. „Ich habe mich immer für Bilder interessiert“, sagt Strysio. Als sich ihr vor ein paar Monaten die Gelegenheit bot, die Fotos zu bekommen, zögerte sie nicht. Julietta Breuer betont: „Das kann ein Vorbild sein und andere Mitbürger anregen, sich auf die Suche zu machen und das Gedenken an die Shoa-Opfer zu unterstützen.“