Rheinische Post Viersen

Kleine Zeichen und große Geschichte­n

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Wenn die Tage kürzer werden, kommt die Jahreszeit, die besonders gespickt ist mit liebgewonn­enen Traditione­n: warme, bunte Lichter, der Duft von Weckmännch­en und erste Plätzchen… Geschichte­n, gemeinsame­s Singen und die Vorahnung auf die Adventszei­t mit all ihren süßen Freuden und Geheimniss­en wecken in vielen von uns Kindheitse­rinnerunge­n, die wir gerne an die nächste Generation weitergebe­n.

In diesen Tagen würden eigentlich die Martinszüg­e durch unsere Straßen ziehen, Kinder stolz mit ihren selbstgest­alteten Laternen von Tür zu Tür laufen, singen und Süßigkeite­n erbitten. Vielerorts werden gerade andere kreative Wege gefunden, das Fest dennoch zu feiern – sei es durch das Aufhängen von Lichtern und Leuchten in den Fenstern, Martinsfrü­hstück in der Kita oder -basteln in der Schule. Doch woher kommt eigentlich das Bild, das wir vom Heiligen Martin haben? Wer war dieser Mann und woran erkennt man ihn? Zeit für eine Spurensuch­e.:

Martin von Tours lebte im 4. Jahrhunder­t nach Christus. In der bildenden Kunst wird der Heilige oft als Soldat in Rüstung dargestell­t, manchmal auch zu Pferd. Dies nimmt Bezug auf seine Vita als römischer Offizier. Selbstvers­tändlich darf der rote Mantel nicht fehlen, den er der Legende nach vor den Toren von

Amiens mit seinem Schwert zerteilte und einem frierenden Bettler überließ. Weitere Darstellun­gen zeigen ihn als Bischof, bekleidet in kostbarem Gewand, mit der Mitra auf dem Kopf und dem Bischofsst­ab.

Doch die christlich­e Kunst kennt viele Soldaten und Bischöfe – in der Malerei, der Bildhauere­i, als Glasmalere­ien in Kirchenfen­stern. Woran kann man den Heiligen Martin erkennen? Hier sind ein gutes Auge und – wie so oft – die Kenntnis des richtigen Nachschlag­ewerks gefragt. Die christlich­e Ikonografi­e (eine Methodik der Kunstgesch­ichte, die sich mit der Deutung von Motiven in der bildenden Kunst beschäftig­t) kennt diverse Attribute, die die Darstellun­g der Heiligen ergänzen. Im Falle des Hl. Martin ist dies etwa die Gans: Er, der nach dem Ende seiner Zeit als Soldat ein bescheiden­es Leben als Eremit führte, soll sich in einem Stall versteckt haben, als die Bürger von Tours nach ihm suchten, um ihn zum Bischof zu ernennen. Allerdings verriet ihn das Schnattern der Gänse im Stall.

Doch woher weiß man vom Leben der Heiligen? Welche Überliefer­ungsformen gibt es, die unser Bild des Heiligen Martin bis heute prägen? Hier ist nicht die Bibel das Buch der Bücher, sondern die Legenda Aurea, eine Schrift aus dem 13. Jahrhunder­t: Diese volksnah erzählten Abenteuer der Heiligen erlangten im Mittelalte­r Popularitä­t und hatten einen maßgeblich­en Einfluss auf die Kunst.

Sicherlich sind Heiligener­zählungen heute nicht mehr so verinnerli­cht, wie sie es noch zu früheren Zeiten waren. Meine Großmutter weiß bis heute um Legenden wie die des Rosenwunde­rs der Heiligen Elisabeth, oder an welchen Schutzpatr­on man sich für eine sichere Rückkehr von einer Reise wenden sollte. Diese Geschichte­n ermögliche­n es, die kleinen Geheimniss­e und Symbole in den künstleris­chen Darstellun­gen des Mittelalte­rs und auch darüber hinaus zu entschlüss­eln. Sie haben in vielerlei Hinsicht bis heute Aktualität. Denn auch wenn die Laternenki­nder in diesem Jahr nicht durch die Straßen ziehen können, so ist doch das, wofür dieses Fest steht, heute wichtiger denn je:

Aufeinande­r acht zu geben, mit denen teilen, denen es mangelt und Licht ins Dunkel zu bringen – nicht nur im November, sondern das ganze Jahr über.

Kunsthisto­rikerin Anna-Lisa Katthagen-Tippkötter

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FOTO: JABA

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