„Wir Grünen können Kanzlerin oder Kanzler“
Die Fraktionschefin der Grünen über Chaos in der Corona-Krise, Verzicht für mehr Klimaschutz und die K-Frage in ihrer Partei.
Frau Göring-Eckardt, welchen Eindruck haben Sie vom Corona-Krisenmanagement nach der Ministerpräsidentenkonferenz bei der Kanzlerin am Montag? GÖRING-ECKARDT Die Lage in der Corona-Pandemie ist viel zu ernst, als dass sich Bund und Länder dieses Prinzip Chaos weiter leisten können. Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung im Vorfeld einer Ministerpräsidentenkonferenz massenweise Einzelforderungen erhebt, die die Bürgerinnen und Bürger verunsichern, und am Ende gar nichts davon beschlossen wird. So untergräbt man das Vertrauen in die Maßnahmen, die bereits bestehen, und die noch kommen müssen. Die Leute haben nach Monaten der Pandemie das Recht darauf zu wissen, warum macht man was, wie habt ihr euch geeinigt.
Sind Sie inhaltlich eher bei der Kanzlerin oder bei den Ländern, wenn es um die Härte der notwendigen Maßnahmen geht? GÖRING-ECKARDT Die Regierung hat über den Sommer keine Vorkehrungen für den Herbst und kommenden Winter getroffen. Das rächt sich jetzt. Insofern teile ich die Einschätzung der Kanzlerin, dass es schneller zu strengeren Maßnahmen hätte kommen müssen. Aber auch ich bin dafür, jede Maßnahme genau abzuwägen und zu begründen, warum sie nötig ist. Und vor allem fehlt es an einer echten Perspektive, wie man aus der akuten Situation herauskommen kann und später einen erneuten Rückfall verhindert.
Was müsste Ihrer Meinung nach schneller beschlossen werden? GÖRING-ECKARDT Wir brauchen in den Schulen und Kitas eine echte Betreuungsgarantie. Der Unterricht an Schulen muss so lange wie möglich stattfinden können, unter sicheren Bedingungen. Geschlossene Schulen haben massive negative Effekte gerade für die Kinder, die zu Hause nicht so viel Unterstützung bekommen. Eltern sollten aber auch jetzt schon die Sicherheit haben, dass sie nicht wieder alleinegelassen werden. Es braucht eine verlässliche und funktionierende Notbetreuung, wenn der Präsenzunterricht nicht mehr stattfinden kann. Für alle, die das brauchen. Das wollen wir durchsetzen.
Und wir brauchen ein Sofortprogramm zur Anschaffung von Luftfilteranlagen in Schulen.
Da gibt der Bund doch bereits Geld. GÖRING-ECKARDT Nein, der Bund hat ein Förderprogramm für öffentliche Gebäude und Versammlungsstätten gestartet. Aber nur für den Ausbau bestehender Filteranlagen. Die gibt es aber in den allermeisten Schulen nicht. Wir brauchen ein 500-Millionen-Förderprogramm zur Anschaffung mobiler Luftfilter für Schulen. Denn in vielen Schulen lassen sich die Fenster gar nicht öffnen.
An diesem Mittwoch beschäftigen sich Bundestag und Bundesrat mit dem Infektionsschutzgesetz und erweiterten Kompetenzen für Gesundheitsminister Spahn. Gibt das Parlament zu viel seiner Macht auf? GÖRING-ECKARDT Das Gegenteil ist der Fall. Das Parlament stellt nun die Corona-Maßnahmen auf eine verlässliche rechtliche Grundlage. Der Bundestag definiert den Rahmen, innerhalb dessen die Regierung in Bund und Ländern handeln können. Auch künftig wird der Bundestag feststellen müssen, dass es eine epidemische Lage von nationaler Tragweite gibt, damit die Regierung überhaupt Maßnahmen ergreifen kann. Das Parlament ist der Ort, der entscheidet. Wir haben dafür sorgen können, dass die erweiterten Kompetenzen der Regierungen zeitlich befristet werden. Das ist ein Fortschritt, auch wenn wir noch viel Kritik an dem Gesetz haben und die Arbeit am gesetzlichen Rahmen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie weitergehen muss.
Im Netz wird zum Widerstand gegen die Änderungen aufgerufen, es soll Demonstrationen in Berlin geben. Worauf stellen Sie sich ein? GÖRING-ECKARDT Kritik und Widerspruch gegen Gesetze sind legitim. Eine Grenze ist überschritten, wenn Abgeordnete in ihrer freien Mandatsausübung behindert oder eingeschüchtert werden sollen. Ich finde es perfide, wie insbesondere rechte Gruppen Verschwörungstheorien verbreiten und hetzen. Wir haben in der Fraktion gut 30.000 Massenmails bekommen, viele davon sind nur krude. Da wird behauptet, mit dem Gesetz solle die Demokratie abgeschafft werden, Vergleiche zu Diktaturen werden gezogen. Das ist absurd. Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe unter einer Diktatur leben müssen. Wer auch immer diesen Mailangriff organisiert: Die wollen unsere Demokratie ins Wanken bringen und unseren demokratischen Parlamentarismus stören. In diesem orchestrierten Angriff gehen leider die Mails unter, wo Bürgerinnen und Bürger ernstgemeinte, auch kritische Nachfragen stellen und eine Antwort verdient haben.
Am Wochenende halten die Grünen einen virtuellen Parteitag ab. Was soll Ihre Botschaft sein? GÖRING-ECKARDT Wir machen unseren Führungsanspruch als Bündnispartei klar und beschließen ein neues Grundsatzprogramm, mit dem wir die Breite der Gesellschaft in den Blick nehmen. Mit dem Programm machen wir deutlich, vor welcher Menschheitsaufgabe wir alle zusammen stehen.
Nämlich?
GÖRING-ECKARDT Wir befinden uns an einem Punkt, der an den Fall der Mauer 1989 und den anschließenden totalen Umbruch der Gesellschaft erinnert.
Ich stamme aus der DDR und habe diesen Wandel direkt erlebt. Wir brauchen jetzt wieder einen Transformationsprozess in allen Bereichen, um den Erhalt der Natur und des Klimas mit unserer Lebensweise in vernünftigen Einklang zu bringen.
Wird es ein Verzichtsprogramm? GÖRING-ECKARDT Die Wirtschaft und damit unsere Arbeit, der Verkehr, die Landwirtschaft und unsere Ernährung müssen sich radikal ändern, damit wir die Klimaziele von Paris erreichen und langfristig unsere Ressourcen wie das Trinkwasser sichern können. Es geht um Vorsorge für unsere Zukunft. Erst Veränderung schafft den nötigen Halt. Für uns ist klar: Politische Entscheidungen müssen daran gemessen werden, ob ihre Folgen mit der Einhaltung der planetaren Grenzen vereinbar sind. Wir erleben ja schon jetzt einen Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft, wie beispielsweise der rückläufige Fleischkonsum bereits zeigt. Diesen Wandel wollen wir stärken.
Im Frühjahr wollen die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck festlegen, wer von ihnen als Kanzlerkandidatin oder Kanzlerkandidat ins Rennen geht. Können das beide?
GÖRING-ECKARDT Wir Grünen können Kanzlerin oder Kanzler. Da bin ich sicher.