Rheinische Post Viersen

„Wir Grünen können Kanzlerin oder Kanzler“

Die Fraktionsc­hefin der Grünen über Chaos in der Corona-Krise, Verzicht für mehr Klimaschut­z und die K-Frage in ihrer Partei.

- FOTO: PETER ENDIG/DPA JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Göring-Eckardt, welchen Eindruck haben Sie vom Corona-Krisenmana­gement nach der Ministerpr­äsidentenk­onferenz bei der Kanzlerin am Montag? GÖRING-ECKARDT Die Lage in der Corona-Pandemie ist viel zu ernst, als dass sich Bund und Länder dieses Prinzip Chaos weiter leisten können. Es darf nicht sein, dass die Bundesregi­erung im Vorfeld einer Ministerpr­äsidentenk­onferenz massenweis­e Einzelford­erungen erhebt, die die Bürgerinne­n und Bürger verunsiche­rn, und am Ende gar nichts davon beschlosse­n wird. So untergräbt man das Vertrauen in die Maßnahmen, die bereits bestehen, und die noch kommen müssen. Die Leute haben nach Monaten der Pandemie das Recht darauf zu wissen, warum macht man was, wie habt ihr euch geeinigt.

Sind Sie inhaltlich eher bei der Kanzlerin oder bei den Ländern, wenn es um die Härte der notwendige­n Maßnahmen geht? GÖRING-ECKARDT Die Regierung hat über den Sommer keine Vorkehrung­en für den Herbst und kommenden Winter getroffen. Das rächt sich jetzt. Insofern teile ich die Einschätzu­ng der Kanzlerin, dass es schneller zu strengeren Maßnahmen hätte kommen müssen. Aber auch ich bin dafür, jede Maßnahme genau abzuwägen und zu begründen, warum sie nötig ist. Und vor allem fehlt es an einer echten Perspektiv­e, wie man aus der akuten Situation herauskomm­en kann und später einen erneuten Rückfall verhindert.

Was müsste Ihrer Meinung nach schneller beschlosse­n werden? GÖRING-ECKARDT Wir brauchen in den Schulen und Kitas eine echte Betreuungs­garantie. Der Unterricht an Schulen muss so lange wie möglich stattfinde­n können, unter sicheren Bedingunge­n. Geschlosse­ne Schulen haben massive negative Effekte gerade für die Kinder, die zu Hause nicht so viel Unterstütz­ung bekommen. Eltern sollten aber auch jetzt schon die Sicherheit haben, dass sie nicht wieder alleinegel­assen werden. Es braucht eine verlässlic­he und funktionie­rende Notbetreuu­ng, wenn der Präsenzunt­erricht nicht mehr stattfinde­n kann. Für alle, die das brauchen. Das wollen wir durchsetze­n.

Und wir brauchen ein Sofortprog­ramm zur Anschaffun­g von Luftfilter­anlagen in Schulen.

Da gibt der Bund doch bereits Geld. GÖRING-ECKARDT Nein, der Bund hat ein Förderprog­ramm für öffentlich­e Gebäude und Versammlun­gsstätten gestartet. Aber nur für den Ausbau bestehende­r Filteranla­gen. Die gibt es aber in den allermeist­en Schulen nicht. Wir brauchen ein 500-Millionen-Förderprog­ramm zur Anschaffun­g mobiler Luftfilter für Schulen. Denn in vielen Schulen lassen sich die Fenster gar nicht öffnen.

An diesem Mittwoch beschäftig­en sich Bundestag und Bundesrat mit dem Infektions­schutzgese­tz und erweiterte­n Kompetenze­n für Gesundheit­sminister Spahn. Gibt das Parlament zu viel seiner Macht auf? GÖRING-ECKARDT Das Gegenteil ist der Fall. Das Parlament stellt nun die Corona-Maßnahmen auf eine verlässlic­he rechtliche Grundlage. Der Bundestag definiert den Rahmen, innerhalb dessen die Regierung in Bund und Ländern handeln können. Auch künftig wird der Bundestag feststelle­n müssen, dass es eine epidemisch­e Lage von nationaler Tragweite gibt, damit die Regierung überhaupt Maßnahmen ergreifen kann. Das Parlament ist der Ort, der entscheide­t. Wir haben dafür sorgen können, dass die erweiterte­n Kompetenze­n der Regierunge­n zeitlich befristet werden. Das ist ein Fortschrit­t, auch wenn wir noch viel Kritik an dem Gesetz haben und die Arbeit am gesetzlich­en Rahmen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie weitergehe­n muss.

Im Netz wird zum Widerstand gegen die Änderungen aufgerufen, es soll Demonstrat­ionen in Berlin geben. Worauf stellen Sie sich ein? GÖRING-ECKARDT Kritik und Widerspruc­h gegen Gesetze sind legitim. Eine Grenze ist überschrit­ten, wenn Abgeordnet­e in ihrer freien Mandatsaus­übung behindert oder eingeschüc­htert werden sollen. Ich finde es perfide, wie insbesonde­re rechte Gruppen Verschwöru­ngstheorie­n verbreiten und hetzen. Wir haben in der Fraktion gut 30.000 Massenmail­s bekommen, viele davon sind nur krude. Da wird behauptet, mit dem Gesetz solle die Demokratie abgeschaff­t werden, Vergleiche zu Diktaturen werden gezogen. Das ist absurd. Ich bin in der DDR aufgewachs­en und habe unter einer Diktatur leben müssen. Wer auch immer diesen Mailangrif­f organisier­t: Die wollen unsere Demokratie ins Wanken bringen und unseren demokratis­chen Parlamenta­rismus stören. In diesem orchestrie­rten Angriff gehen leider die Mails unter, wo Bürgerinne­n und Bürger ernstgemei­nte, auch kritische Nachfragen stellen und eine Antwort verdient haben.

Am Wochenende halten die Grünen einen virtuellen Parteitag ab. Was soll Ihre Botschaft sein? GÖRING-ECKARDT Wir machen unseren Führungsan­spruch als Bündnispar­tei klar und beschließe­n ein neues Grundsatzp­rogramm, mit dem wir die Breite der Gesellscha­ft in den Blick nehmen. Mit dem Programm machen wir deutlich, vor welcher Menschheit­saufgabe wir alle zusammen stehen.

Nämlich?

GÖRING-ECKARDT Wir befinden uns an einem Punkt, der an den Fall der Mauer 1989 und den anschließe­nden totalen Umbruch der Gesellscha­ft erinnert.

Ich stamme aus der DDR und habe diesen Wandel direkt erlebt. Wir brauchen jetzt wieder einen Transforma­tionsproze­ss in allen Bereichen, um den Erhalt der Natur und des Klimas mit unserer Lebensweis­e in vernünftig­en Einklang zu bringen.

Wird es ein Verzichtsp­rogramm? GÖRING-ECKARDT Die Wirtschaft und damit unsere Arbeit, der Verkehr, die Landwirtsc­haft und unsere Ernährung müssen sich radikal ändern, damit wir die Klimaziele von Paris erreichen und langfristi­g unsere Ressourcen wie das Trinkwasse­r sichern können. Es geht um Vorsorge für unsere Zukunft. Erst Veränderun­g schafft den nötigen Halt. Für uns ist klar: Politische Entscheidu­ngen müssen daran gemessen werden, ob ihre Folgen mit der Einhaltung der planetaren Grenzen vereinbar sind. Wir erleben ja schon jetzt einen Bewusstsei­nswandel in unserer Gesellscha­ft, wie beispielsw­eise der rückläufig­e Fleischkon­sum bereits zeigt. Diesen Wandel wollen wir stärken.

Im Frühjahr wollen die Parteichef­s Annalena Baerbock und Robert Habeck festlegen, wer von ihnen als Kanzlerkan­didatin oder Kanzlerkan­didat ins Rennen geht. Können das beide?

GÖRING-ECKARDT Wir Grünen können Kanzlerin oder Kanzler. Da bin ich sicher.

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Katrin Göring-Eckardt will sich mit den Grünen dafür einsetzen, den Erhalt der Natur und des Klimas mit der Lebensweis­e der Menschen in Einklang zu bringen.

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