Ein weiterer Kraftakt
Nach siebeneinhalb Stunden konnten sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten einigen – unter anderem auf eine neue Inzidenz-Schwelle von 200.
BERLIN Der Tag geht schon nicht gut los für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Während sie am Mittwochmorgen mit ihrem Kabinett im großen Saal des Kanzleramts berät, rammt ein Auto das Tor des Bundeskanzleramts. Um kurz nach zehn Uhr fährt ein 54-jähriger Fahrer mit einem dunkelgrünen Golf Kombi gegen ein Tor in der Zufahrt des Bundeskanzleramtes. Bundespolizisten nehmen den Mann fest. Unglaubliches sickert durch: Im Februar 2014 soll der damals 48-jährige Mann mit demselben Auto schon einmal gegen den Zaun des Kanzleramts gefahren sein. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums bestätigt diese Information am Mittag.
Für Merkel, die Kabinettsmitglieder und die Beschäftigten im Kanzleramt habe zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung bestanden, erklärt ein Regierungssprecher. Ein Schreckensmoment ist es dennoch.
Und es geht holprig weiter für die Kanzlerin. Bereits um 14 Uhr geht die Besprechung mit den Ländern los. Aber erst siebeneinhalb Stunden später tritt sie am Abend vor die versammelte Presse, um die Ergebnisse der Winter-Corona-Sitzung zu verkünden. „Wir sind zu einem guten Ergebnis gekommen“, sagt sie um 21.30 Uhr. Es gebe zwar einen Teil-Erfolg im Kampf gegen das Coronavirus, „doch damit können wir uns nicht begnügen“, sagt sie. Der
Teil-Lockdown wird in den Januar hinein verlängert. Sie dankt den Bürgern, dass die meisten die Einschränkungen mitgetragen hätten. „Wir brauchen Geduld und Solidarität“, mahnt Merkel, spricht von einer „erneuten Kraftanstrengung“. Sie wirkt etwas mitgenommen nach dem langen Tag.
Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und sein Vize – der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder – waren seit dem Mittag im Kanzleramt vor Ort. Alle anderen per Video zugeschaltet. Zwei Regierungschefinnen, 14 Regierungschefs – und mindestens 16 verschiedene Interessen.
Der Sitzung waren lange Vorbereitungen vorausgegangen. Bereits vor der eigentlichen Konferenz hatten die Ministerpräsidenten ohne Merkel miteinander gesprochen, am Montagabend vier Stunden lang konferiert. Denn diesmal waren sie es, die ihre Hausaufgaben vorher machen mussten. Sie brachten ein untereinander abgestimmtes Konzept mit in die Sitzung. Es ist das erste Mal, dass nicht Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) eine Vorlage erstellt hat, sondern auf die Beschlüsse reagieren muss.
Bei der Besprechung vor zehn Tagen hatte die Kanzlerin entnervt auf die umfassende Kritik der Länderchefs an ihrem damaligen Konzept reagiert. „Dann sollen die doch Vorschläge
machen“, soll sie nach Stunden zähen Ringens gesagt haben.
Zu Beginn der Sitzung ergriff der bayerische Ministerpräsident das Wort. Markus Söder hatte sich schon zuvor nicht völlig zufrieden mit den bereits vereinbarten Maßnahmen der Länder gezeigt. Er forderte eine Strategie für Corona-Hotspots und den Ski-Urlaub in diesem Jahr ausfallen lassen. Auch plädierte er für strenge Kontaktbeschränkungen über Silvester – anders als die meisten seiner Länderkollegen. „Denn Weihnachten ist das Fest der Familie, Silvester natürlich mehr das Fest der Freunde“, erklärte er kurz vor der Sitzung.
Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, griff er in der Video-Schalte zu einem drastischen Bild, berichteten Teilnehmer. Die täglichen Todeszahlen seien vergleichbar mit einem täglichen Flugzeugabsturz, sagte Söder.
Tatsächlich wurde die Besprechung von einem traurigen Rekord überschattet. Binnen 24 Stunden waren 410 Menschen an oder mit Corona gestorben. Der bayerische Ministerpräsident gab damit den Ton der Sitzung vor – es herrsche eine ernste Stimmung, hieß es.
Auch lief es diesmal anders als sonst. Die Länder traten geeinter auf, die Vorbesprechungen zahlten sich aus, es ging nicht mehr wie Kraut- und Rüben durcheinander. Diesmal waren die Länder weitgehend auf einer Linie – auch weil die hohen Infiziertenzahlen nahezu alle betreffen. So hat etwa Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) mit Hildburghausen den derzeit führenden deutschen Hotspot in seinem Bundesland.
Am früheren Abend standen Fragen im Raum: 50 oder 200? Es geht um die Inzidenz in den Hotspots – wo zieht man die Grenze für stärkere Maßnahmen? Merkel war für die 50, die Länder wollten eine höhere Zahl. Man einigte sich dann auf 200. Kurze Pause. Dann sorgte Sachsens Ministerpräsident
Michael Kretschmer (CDU) für Streit. Er will nur zusätzliche Busse für Schüler einsetzen, wenn dem Land dadurch keine Kosten entstehen. Überhaupt, das Geld: Dem Vernehmen nach soll Merkel den Ländern klargemacht haben, dass sie von Bundesseite aus nicht bereit ist, ab Januar für alle Kosten der Krise weiter aufzukommen.
SMS an einen Teilnehmer nach fast sechs Stunden Verhandlung: Fertig? Antwort: „Nein, ist schlimm. Alle wollen zu allem etwas sagen.“Die Nerven sind bei allen gespannt – egal, ob in den Staatskanzleien oder im Kanzleramt. Es steht so vieles auf dem Spiel.