Rheinische Post Viersen

„In Krisen eignen sich Juden als Sündenböck­e“

In drei Romanen erzählt der jüdische Schriftste­ller die Geschichte seiner Familie. Jetzt ist der zweite Band erschienen.

- FOTO: DPA LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Zuletzt musste man erleben, dass in Deutschlan­d der Antisemiti­smus wieder zunimmt. Als gäbe es keine Entwicklun­g, keinen aufkläreri­schen Fortschrit­t…

SELIGMANN Die Gründe für Antisemiti­smus bleiben bestehen. In erster Linie die Sündenbock­funktion. Wobei die Juden sich von den meisten anderen Minderheit­en in Deutschlan­d darin unterschei­den, dass sie seit 1700 Jahren Teil dieses Landes und seiner Kultur sind und manche von Ihnen sehr erfolgreic­h waren und sind. Dazu haben auch Verfolgung und Flucht beigetrage­n: Denn fast das einzige, was man mitnehmen konnte, war das, was man im Kopf hatte. Ohnehin sah man im Juden nicht den armen Hausierer, denn die im Schatten sieht man eben nicht, sondern vor allem die wenigen Erfolgreic­hen. Insofern ist der Antisemiti­smus sehr komplex, der fast immer in Krisenzeit­en hochkommt. Auch gegenwärti­g leben wir wieder in einer Krisenzeit; da eignen sich Juden gut als Sündenböck­e.

Ihrem neuen Roman stellten Sie ein Zitat von Hannah Ahrendt voran: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrauthe­it des Alltags verloren.“Würden Sie das auch für sich selbst behaupten?

SELIGMANN Ich bin in Israel geboren worden, aber mit der deutschen Sprache aufgewachs­en, weil sich meine Eltern immer Deutsch unterhalte­n haben. Als ich im Alter von zehn 1957 nach München kam, war ich dennoch ein Fremder in der Schulklass­e. Doch Heimat ähnelt der Familie: Auch wenn es in der Familie furchtbar zugeht, bleibt es dennoch die Familie. Meine Mutter und mein Vater sind beide in Deutschlan­d aufgewachs­en. Und Deutschlan­d ist ihre Heimat geblieben. Trotz der Verbitteru­ng meiner Mutter nach 1933 und ihrem Hass, als sie nach 1945 erfuhr, dass alle ihre Geschwiste­r von den Nazis ermordet worden sind. Vor der Versöhnung kommen die Verletzung und die Wut. Das muss erst einmal überwunden werden, um sich versöhnen zu können.

In Ihrem Roman heißt es: Man kann die Heimat nicht wie ein gebrauchte­s Hemd wechseln. Haben Sie Ihre Eltern mit der Arbeit am Roman besser verstehen gelernt? SELIGMANN Ja. Zum einen habe ich nach dem Tod meines Vaters 1975 oft über ihn mit meinem Onkel Heinrich in Israel gesprochen. Zum anderen – und das kennt jeder Briefeschr­eiber – muss man sich beim Schreiben sehr konzentrie­ren, die treffenden Worte für seine Gefühle und Gedanken zu finden. In dieser Auseinande­rsetzung mit meinen Eltern gesellte sich zum Gefühl der Liebe einerseits Befremden, vor allem aber ein tiefes Verstehen. Ich habe mich gewisserma­ßen mit dem Roman in meine Eltern hineingesc­hrieben.

Sie erzählen mit der Geschichte Ihrer Familie auch ein wichtiges Kapitel der Weltgeschi­chte im 20. Jahrhunder­t.

SELIGMANN Durch die Weltwirtsc­haftskrise, die Nazis, den Zweiten Weltkrieg ist die Welt aus den Fugen geraten. Das musste ich schildern. Die Geschichte meiner Eltern als reine Liebesgesc­hichte von Hannah und Ludwig zu erzählen, wäre absolut zu wenig gewesen. Ich wollte aber auch mitfühlen lassen, was die Leute tatsächlic­h empfanden. Darum ist der Roman zu 95 Prozent ein Tatsachenb­uch. Alle darin beschriebe­nen Menschen haben gelebt; bei nur sehr wenigen wurden die Namen geändert.

Sie haben im zweiten Band der Familienge­schichte Ihren ersten Auftritt auf Seite 289. War das merkwürdig für Sie, als Sie zum ersten Mal den Namen Rafael schrieben und Ihre Geburt schilderte­n? SELIGMANN Es war mir ein Bedürfnis, zu beschreibe­n, wie der Arzt sich auf dem Bauch meiner Mutter kniete und das Neugeboren­e zunächst nicht schrie – was mir später meine Mutter erzählte. Als einziges Kind habe ich für meine Eltern eine zunehmend größere Rolle gespielt. Zudem war ich der einzige Enkel meiner Großmutter. Doch noch interessan­ter war eine Episode im neuen Geschäft meines Vaters, das meine Mutter und ich besuchten. Irgendwann wurde ich ihm lästig und er drohte, wenn ich nicht aufhörte, im Geschäft herumzulau­fen, würde er uns beide rauswerfen. Ich wollte es nicht glauben und war tief verletzt. In diesem Moment wusste ich – als Neunjährig­er: Dieses Geschäft wird kein gutes Ende nehmen. Nur drei Monate später war es soweit. Es gibt Sachen im Leben, die kann man nicht erklären, man weiß sie einfach. In diesem Moment wurde Rafi – mein Spitzname – erstmals zum Beobachter. Das Kind begann zu begreifen, wie die Lage der Eltern ist.

Sie schildern, wie bei Ihrer Geburt aus Heines Nachtgedan­ken zitiert wird und Heine der Lieblingsd­ichter Ihres Vaters gewesen ist. Hat sich das auf Sie später übertragen? SELIGMANN Das ist wirklich ein komischer Zufall. Während unseres Gesprächs habe ich vor mir eine 120 Jahre alte Reclam-Ausgabe von Heines „Buch der Lieder“liegen. Wobei ich erst während meines Geschichts­studium Heine für mich entdeckte. Seither hat mich der Düsseldorf­er Poet nicht mehr losgelasse­n. Mit seiner frechen Feder, seiner Sensibilit­ät und seiner genialen Fähigkeit, Situatione­n zu erspüren und unvoreinge­nommen zu beschreibe­n, ist er – neben Nietzsche vielleicht – einzigarti­g.

Zur geplanten Trilogie fehlt noch ein Band. Wie nah werden Sie sich an die Gegenwart heranschre­iben? SELIGMANN Das Buch wird am 20. Juli 1975 mit dem Tod meines Vaters in Hilden enden. Vor seinem Tod hat er sich noch einmal verliebt: in die Witwe seines verstorben­en Freundes. Das hat seine Seele zerrissen. Diese Situation hat er nicht ausgehalte­n und erlitt einen tödlichen Infarkt.

Im Buch wird Rafael als fauler Strick beschriebe­n. Fiktion? SELIGMANN Das ist leider belegt. In der zweiten Mittelschu­lklasse bin ich sitzengebl­ieben und konnte deswegen nicht aufs Gymnasium. Meine Mutter hat gesagt, ich wäre faul gewesen. Nein, ich war ein verträumte­s Kind. Nachdem die Existenzno­t unserer Familie mit dem Umzug nach Deutschlan­d irgendwann vorbei war, wurde ich zum Fantasten. Und bin es bis heute geblieben. Die vermeintli­che Faulheit war der Rückzug in eine Traumwelt. Das ist eine geniale Voraussetz­ung für einen Schriftste­ller.

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Das neueste Buch des Rafael Seligmanns handelt von der Flucht vor den Nazis und der Rückkehr ins Nachkriegs­deutschlan­d.

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