Warteschlangen als Horrorszenario
Aus Sorge vor einer Infektion könnten noch mehr Kunden ins Internet abwandern, fürchtet der Handelsverband HDE.
DÜSSELDORF Einmal mehr stößt eine Entscheidung, die Bund und Länder in der Corona-Krise getroffen haben, auf Unmut im deutschen Einzelhandel. Der Branchenverband HDE reagierte am Donnerstag mit Unverständnis auf die jüngsten Beschlüsse: „Mit dieser Regelung werden wir Warteschlangen vor den Supermärkten, Modegeschäften und Kaufhäusern erleben. Das schafft neue Gelegenheiten für Ansteckungen“, sagte Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Zudem verstärkten die anstehenden Kunden dann das Gefühl bei den Verbrauchern, die Waren könnten knapp werden. Die Konsequenz könnten erneut verstärkte Hamsterkäufe im Lebensmittelhandel sein. Edeka-Chef Markus Mosa hat bereits davor gewarnt, der Lebensmittelhandel könne unter diesen Vorgaben „die hohe Nachfrage gerade im Weihnachtsgeschäft nicht bedienen“.
Auch in NRW sind Vertreter der Branche wütend. „Die Regelung ist überflüssig und aktionistisch“, kritisiert etwa Peter Achten, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes NRW. „Es gibt keine Indizien für Infektionsherde im Handel“, betont er. „Insofern muss man ein großes Fragezeichen hinter die Wirksamkeit dieser Maßnahme machen. Und juristisch fragwürdig ist sie auch.“Er wolle nicht ausschließen, dass ein Handelsunternehmen einen Eilantag stellen werde, um die Entscheidung juristisch zu kippen.
Warteschlangen mit zusätzlichen Infektionsgefahren sind das eine Horrorszenario, das die Unternehmen aufziehen sehen. Ein anderes ist laut Achten die Furcht der Menschen: „So mancher, der in die Stadt geht, lässt das jetzt womöglich sein, weil er keine Lust oder Angst hat, sich in die Schlange zu stellen.“Solche Menschen könnten dann ihre Weihnachtseinkäufe übers Internet statt in der Stadt erledigen. Aus Sicht des HDE zeichnet sich jedenfalls eine weitere Verlagerung von Umsätzen ins Online-Geschäft ab. „Dies trifft den Innenstadthandel massiv“, warnt Genth. Schon in den ersten drei Wochen des Novembers seien die Umsätze hier um durchschnittlich 30 Prozent gesunken, im Bekleidungshandel sogar um 40 Prozent. Zwar geht der HDE nach wie vor von einem Gesamtumsatz von 104 Milliarden Euro für November und Dezember aus, aber der Umsatz im Online-Handel könnte um zwei Milliarden auf 19,5 Milliarden Euro wachsen. Zwei Milliarden, die den Ladenlokalen in den Innenstädten fehlen würden. Vor allem den Modehändlern, von denen viele seit Beginn der Pandemie am schärfsten von den Einschränkungen getroffen worden sind. Aber auch Spielwarenverkäufer und Schuhhändler ächzen unter den Einschränkungen. Achtens Appell an die Kunden: „Wer kann, sollte doch bitte nicht zu den Stoßzeiten einkaufen, sondern an anderen Tagen. So kann man den Andrang auch entzerren. Wer online einkaufen will, möge sich doch die Online-Angebote der Händler vor Ort anschauen.“Sein Appell an die Politik: „Wer so viele Existenzen gefährdet, muss sich Gedanken um die Entschädigung machen und den Ankündigungen Taten folgen lassen. Bei der Überbrückungshilfe III ab Januar muss der Handel zwingend stärker einbezogen werden“.
Die neue Regelung verlangt der Branche auf jeden Fall penibles Rechnen ab. Bei Ladenflächen bis 800 Quadratmeter soll auf zehn Quadratmetern nur ein Kunde zulässig sein, ab 800 Quadratmetern dann ein Kunde je 20 Quadratmeter.
In einem Discounter mit der üblichen Größe von 1000 Quadratmetern wären dann maximal 90 Kunden gleichzeitig zulässig. Die Folge der neuen Regelung: Je größer das Geschäft ist, umso größer die Auswirkungen auf den Betreiber. Ein Möbelmarkt beispielsweise mit 10.000 Quadratmetern durfte bisher 1000 Kunden auf einen Schlag reinlassen, künftig sind es nur noch 540.
Wobei die Frage bleibt, ob so viele Kunden überhaupt auf einen Schlag kommen. Bei der SB-Warenhauskette Real beispielsweise sieht man schon seit Wochen den Trend, dass die Kunden seltener kommen, aber wenn sie da sind, mehr kaufen als bisher. „Aktuelle Vergleichsdaten zum Vorjahr zeigen zudem, dass zwar der Bonwert pro Einkauf in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen ist, die Kundenfrequenz dagegen im Vorjahresvergleich sinkt“, sagte ein Real-Sprecher auf Anfrage. Dieses Kundenverhalten trage zu einer deutlichen Entzerrung der Lage bei und sorge zudem dafür, dass es auch im frequenzstarken Weihnachtsgeschäft „noch einen Puffer auf dem Weg zur Höchstgrenze der Kundenanzahl im Laden gibt“.
Im Frühjahr gab es übrigens schon mal Diskussionen um eine 800-Quadratmeter-Regelung: Damals sollten nur Geschäfte öffnen dürfen, die bereit waren, ihre Vekaufsfläche auf 800 Quadratmeter zu begrenzen. Das droht diesmal zwar nicht, aber in Handelskreisen wird nicht ausgeschlossen, dass Unternehmen versuchen könnten, diese Regelung über einen Eilantrag kippen zu lassen, weil sie eine Ungleichbehandlung sehen.
Der Warenhauskonzern Karstadt-Kaufhof scheiterte im April allerdings mit einem Antrag gegen die erlassenen Infektionsschutz-Regeln, weil das Oberverwaltungsgericht Münster die Beschränkung der Verkaufsfläche zur Vermeidung von Infektionsketten nicht beanstandenswert fand.