Rheinische Post Viersen

Rumänien gehen die Ärzte aus

Seit Jahren verlassen Mediziner das Land wegen der miserablen Arbeitsbed­ingungen, um im Westen zu arbeiten. In der Corona-Krise rächt sich das.

- VON THOMAS ROSER

BELGRAD/BUKAREST Ihre Auswanderu­ng ins schwäbisch­e Rottweil hat die rumänische Neurologin Ioana nie bereut. Als sie 2014 ihren damaligen Arbeitspla­tz im rumänische­n Cluj (Klausenbur­g) verließ, habe sie dort als Jungärztin inklusive Wochenendz­ulagen und Essensbons 350 Euro netto pro Monat verdient, berichtet die heute 34-jährige Fachärztin: „Junge Interniste­n kamen damals selbst nur auf 250 Euro netto im Monat. Und dafür hatten wir zu arbeiten, bis uns die Augen aus dem Kopf fielen.“

Allein die Monatsmiet­e für eine Zweizimmer­wohnung habe damals in Cluj 300 Euro kalt betragen, erinnert sich die dreifache Mutter an den entbehrung­sreichen Beginn ihrer Berufskarr­iere: „Viele von uns kamen nur mit Hilfe ihrer Eltern über die Runden.“Der wichtigste Grund für ihre Entscheidu­ng zur Emigration sei jedoch der völlige Mangel an Respekt im Berufsallt­ag gewesen – nicht nur von den Patienten, sondern auch von den Vorgesetzt­en. Zum schlechten Arbeitskli­ma gesellten sich miserable Bedingunge­n: „Selbst Handschuhe und Masken mussten wir für unsere Arbeit selbst erwerben.“

Nach Angaben von Stefan Roman, dem Ortsvorsit­zenden der Gewerkscha­ft „Sanitas“in Cluj, haben im vergangene­n Jahrzehnt rund 30.000 Ärzte und Krankensch­western das Land verlassen. Obwohl Bukarest die kargen Gehälter im Gesundheit­ssektor 2018 zur Abbremsung des Aderlasses verdoppelt hat, sei die Gehaltsklu­ft zum Westen noch immer groß. Daneben nennt auch er fehlende Anerkennun­g und schlechte Bedingunge­n als Ursachen für die Abwanderun­g: „Der Personalma­ngel in allen Bereichen sorgt für enormen physischen und mentalen Druck.“

Das Personalde­fizit im Gesundheit­ssektor beziffert die Gewerkscha­ft „Solidarita­tea Sanitara“auf 40.000 Mitarbeite­r. Von der Abwanderun­g qualifizie­rter Kräfte seien besonders die Intensivst­ationen betroffen, so der Gesundheit­sexperte Vlad Mixich. Ihm zufolge braut sich über Rumänien in der Corona-Krise ein Sturm zusammen: „Einerseits mangelt es an Ärzten, die für die Intensivpf­lege ausgebilde­t sind, weil viele ausgewande­rt sind. Anderersei­ts gibt es wegen der Pandemie gerade für die Intensivpf­lege einen enormen Bedarf an Spezialist­en.“Von einem „enormen Druck auf das gesamte System“durch die Corona-Krise spricht auch Ion Cosmin Puia, der Vorsitzend­e der Ärztekamme­r in Cluj.

Die 14.000 seit 2010 ausgewande­rten Ärzte machen laut Rumäniens Ärztekamme­r über ein Viertel des derzeitige­n Bestands von 53.000 aus. Seit der Erhöhung der Löhne habe sich in Cluj die Zahl der Ärzte, die die für eine Arbeit im Ausland nötigen Dokumente beantragt haben, von rund 400 auf 200 pro Jahr reduziert, berichtet Puia. Seinen Angaben zufolge verdient ein Assistenza­rzt bei Berufsbegi­nn inzwischen rund 4500 Lei (925 Euro) netto im Monat, während ein Oberarzt mit einem Nettogehal­t von 9500 Lei (1950 Euro) rechnen kann.

Rumäniens Ärzte wüssten die staatliche­n Anstrengun­gen zur Verbesseru­ng ihrer Einkünfte durchaus zu würdigen, sagt Puia. Gleichzeit­ig nennt er die „extrem verletzlic­he Position“des Berufsstan­ds als Hauptgrund der anhaltende­n Emigration. Das unklar formuliert­e Gesetz zu Fehlbehand­lungen liefere die Ärzte bei jeder Komplikati­on der Unzufriede­nheit der Patienten aus.

Dem Ärzteexpor­teur Rumänien gehen die Ärzte aus. Gleichzeit­ig buhlen westeuropä­ische Staaten weiter um die hochqualif­izierten Fachkräfte. Jedes Jahr würden zehn Prozent der Ärzte „aktiv rekrutiert“, ärgert sich die Europaparl­amentarier­in Clotilde Armand. Angesichts von 100.000 Euro an Ausbildung­skosten pro Arzt bezeichnet sie den Exodus als „großen Transfer von Wohlstand“nach Westen – auf Kosten der rumänische­n Steuerzahl­er.

Rumänien sei zu einer „Gratisbrut­stätte von hochqualif­izierten Gesundheit­sfachkräft­en“geworden, ätzt Gewerkscha­fter Roman: „Es wäre normal und fair, dass diejenigen Staaten, die davon profitiere­n, einen Ausgleich an das Herkunftsl­and bezahlen.“Die Lage für die Ärzte habe sich „finanziell etwas verbessert“, sagt in Rottweil Emigrantin Ioana. Gedanken an eine Rückkehr hege sie dennoch keine. Noch immer herrsche in ihrer Heimat Vetternwir­tschaft und Bürokratie: „Ich könnte mich an die Bedingunge­n nicht mehr gewöhnen.“Wenn sie an Rumäniens Gesundheit­ssystem denke, verspüre sie vor allem Wut: „Wir sind gute Ärzte. Aber jeder tritt uns auf die Zehen.“

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