Ist Latein als Unterrichtsfach in der Schule noch zeitgemäß?
Schlauer ist man immer wieder hinterher“. Die Zeile stammt aus einem Song von „Element of Crime“. Sie hat mehr mit Latein zu tun, als man gemeinhin denkt. Mein Großvater kannte die Gruppe nicht, es gab sie damals gar nicht, aber er als Oberstudiendirektor (Jahrgang 1901) war jedenfalls ein eingefleischter Fan dieser mausetoten Sprache. Meine Eltern erschienen mir seltsam leidenschaftslos, als die Entscheidung fiel, dass ich auf dem Gymnasium damit beginnen würde. War ich jedoch in den Ferien zu Besuch bei den Großeltern, dann wurde ich überall stolz als frischgebackener „Sextaner“vorgestellt, der natürlich Latein lernte. Mag sein, dass das im Ruhrgebiet mehr Eindruck machte als zu Hause am Rhein. In mir stieg zum ersten Mal das Gefühl hoch: alles richtig gemacht.
Zweifel gab es zweifellos: Sexta B lernte Englisch. Das klang moderner, und womöglich fanden sie dort leichter Zugang zu den Texten von Deep Purple, Suzi Quatro oder
Led Zeppelin. Aber große Weisheiten für Zehnjährige enthielten die ohnehin nicht. Was zählte, war der Sound. „Klasse“lautete auf Schulhöfen damals das höchste Lob, „cool“kannte niemand. „Super“war ebenfalls sehr gebräuchlich – und das war Latein. Dass das Prädikat „großes Latinum“später in ein einfaches
Latinum umgewandelt wurde, das jeder für sich beanspruchen durfte, der irgendwann eine antike Inschrift gelesen hatte, war natürlich bitter. Sechs Jahre Latein für diese Light-Version? Je älter man wurde, desto mehr war einem aber bewusst, welchen Vorsprung man hatte. Sexta B war quasi im zweiten Akt des großen europäischen Geschichtsdramas eingestiegen, das man als Erwachsener kennen sollte, und die meisten verstanden daher das Ende nur halb. Unsereiner hingegen spürte bald an jeder Ecke, welch elementare Rolle die Römer für unseren westlichen Way of Life noch immer spielen. Es ist wahr: Non scholae sed vitae discimus. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Auch Latein. Schlauer ist man immer wieder hinterher.
Natürlich wollte ich Französisch nehmen, als ich aufs Gymnasium kam. Aber meine Eltern hatten sich mit meinem Onkel beraten. Der sagt noch heute über sich, er sei „von Haus aus Philologe“. Man kann sich denken, was er riet: Der Junge muss Latein wählen, mit der Grundlage lernt er später alle anderen Sprachen viel leichter. Außerdem: klassische Bildung. Et cetera.
Statt so schön und melodisch zu sprechen wie die Menschen in Paris, saß ich nun also vor Herrn Behnken, der stets einen hellbraunen Wildleder-Blouson über dem Hemd trug. Und statt l’amour zu sagen, übersetzte ich den „Gallischen Krieg“. Warum lässt man
Kinder fast zwei Jahre lang dieses Buch lesen? Was hat das mit ihren Leben zu tun? Ich hatte keine Lust auf dieses Fach, auf die Texte, denen ich dort begegnete, auf den Habitus des „Das zahlt sich schon noch aus, warte mal ab“.
In der neunten Klasse nahm ich freiwillig Französisch dazu. Das war ein Angebot der Schule, es gab zwar Noten, aber die sollten nicht zählen, jedenfalls nicht für die Versetzung. Der Kurs fand einmal die Woche in der siebten und achten Stunde statt. Die Schule war ruhig zu dieser Zeit, alle anderen waren schon zu Hause. Ich mochte diese Treffen, ihre Atmosphäre, die Leichtigkeit.
Aber man kann sich vorstellen, wie viel ein 16-Jähriger um diese Uhrzeit und in diesem Turnus lernt. Immerhin verstand ich nun, um was es in Liedern wie „Ella, elle l’a“und „Voyage, Voyage“ging.
Ich habe nie und nirgendwo davon profitiert, dass ich Latein gewählt habe. Die Stunden mit Latein betrachte ich als verloren, sie hatten keinen positiven Einfluss auf mich, sie erleichterten mir nicht den Zugang zum Französischen. Und als mein Sohn nun vor derselben Frage stand, ob er Latein oder Französisch wählen soll, sagte ich: Ich glaube, Du wirst mit Französisch froher.
Montag und Donnerstag seien seine liebsten Schultage, sagte David neulich. Er hat dann Französisch.