Rheinische Post Viersen

Das fatale Netzwerk der Kirche

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Mindestens 300 Betroffene, mindestens 200 Priester als Täter: Die Zahlen der jüngsten Studie zu sexuellem Missbrauch – diesmal kommen sie aus dem Bistum Münster für die Zeit nach 1945 – sind erschütter­nd. Aber sie rauschen an uns vorbei wie die vielen desaströse­n Erhebungen dieser Art, die in den zurücklieg­enden Wochen und Monaten das Versagen der Kirche dokumentie­ren. Es sind kalte Zahlen, erschrecke­nde Bilanzen, die erst in unsere Gegenwart hineinreic­hen, wenn den Betroffene­n eine Stimme gegeben wurde und die Täter mit ihrem Namen kenntlich gemacht sind. Um beides bemüht man sich in der katholisch­en Kirche seit geraumer Zeit. Die Studie aus Münster aber zeigt noch etwas anderes: nämlich die Stuktur, die Missbrauch möglich machte und manchmal duldete.

Was zutage trat, ist ein großes, dicht gewebtes Netzwerk von Vertuschun­gen: mit Priestern, die einander seit dem Studium kannten. Mit Gutachtern, die der Kirche nahe – oder sogar im Dienst der Kirche standen. Und schließlic­h mit Bischöfen und Generalvik­aren, die falsche Amtsbrüder­lichkeit pflegten. Die Kirche hat sich inzwischen gewandelt, doch wirklich geöffnet hat sie sich nicht. Sie betont das Priestertu­m aller Gläubigen und verharrt im hierarchis­chen Amtsverstä­ndnis. Keine Frage, die Kirche bemüht sich um Aufklärung. Doch das ist ein erster Schritt, mehr nicht. Sie muss auch – um glaubwürdi­g zu bleiben – ernsthaft ihr System befragen, eine Institutio­n, die sich imprägnier­t zu haben scheint vor den Sorgen und Anliegen der Menschen. Es ist nicht damit getan, Glastüren zur Sakristei einzubauen, wie jetzt in Hildesheim geschehen. Die Kirche muss Mut und Kraft zur Öffnung finden. Das ist sie den Betroffene­n schuldig, den Gläubigen und unserer Zeit, die der guten Seelsorge bedürftig ist. BERICHT EIN SYSTEM DER VERTUSCHUN­G, KULTUR

Newspapers in German

Newspapers from Germany