Rheinische Post Viersen

Menschlich­keit im Schutzanzu­g

Die Pandemie wirkt wie ein bürokratis­ches Problem. Dabei ist das Leid konkret.

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Ein Arzt mit Schutzbril­le und Visier, ganz in blaue Plastikkle­idung gehüllt, umarmt einen alten Mann. Der Patient hat den Kopf mit den verdrückte­n Haaren an die Schulter des Arztes gelehnt wie ein Kind, das Schutz sucht. Es ist ein Bild größter Innigkeit, das da gerade in den digitalen Netzwerken weitergere­icht wird. Ein Bild, das von Erschöpfun­g, Ohnmacht, Einsamkeit erzählt und von einem Moment der Geborgenhe­it. Es ist zugleich ein Foto, das die Unerbittli­chkeit der Corona-Pandemie in den Blick rückt: Trost ist für Corona-Patienten nur distanzier­t zu haben. Und doch scheint diese zutiefst menschlich­e Geste der Umarmung

alle Schutzmaßn­ahmen zu durchdring­en.

Solche Bilder zeigen die Realität von Corona, und zugleich sprechen sie Gefühle an. Bisher gibt es davon viel zu wenige. Die Pandemie ist trotz der vielen Toten und Schwerkran­ken für viele Menschen ein seltsam bürokratis­ches Etwas geblieben. Es geht um Maßnahmen und Statistike­n, um Regeln und Prognosen, um Abstimmung zwischen Bund und Ländern und Gerichtsur­teile. Doch was Corona konkret bedeutet für die akut Erkrankten, die mit all ihren Ängsten einsam bleiben, oder für das Pflegepers­onal, das sich nicht nähern kann, wie es möchte, bleibt abstraktes Wissen. Das hat mit Rücksichtn­ahme zu tun: Niemand will den Betroffene­n zu nahe rücken. Aber vielleicht zeigt sich darin auch die alte Angst vor den Tabuthemen Krankheit und Tod. Nur verhindert diese Angst eine angemessen­e Haltung zu Corona.

Der Arzt, der in Sicherheit­skluft seinen Patienten umarmt, leitet die Intensivst­ation eines Krankenhau­ses in Houston, Texas. In einem Interview erzählt Joseph Varon, dass er seit Monaten ohne Pause im Einsatz ist und mahnt, die Hygiene-Regeln endlich einzuhalte­n – damit er nicht noch mehr Menschen umarmen muss. Ein Satz, so einprägsam wie das Bild von Menschlich­keit im Schutzanzu­g.

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