Der Mann über den Dingen
Bundestrainer Joachim Löw tritt nach der EM zurück. Im Rückblick kommt diese Entscheidung zu spät, denn die Vorzeigepartnerschaft zwischen dem Deutschen Fußball-Bund und dem Mann aus dem Schwarzwald weist schon seit dem WM-Titel 2014 unübersehbare Risse a
FRANKFURT Niemand weiß so ganz genau, wann das losging. War es nach dem größten Triumph, den ein Trainer feiern kann, dem Gewinn der Weltmeisterschaft? War es während der Vorbereitung auf die Europameisterschaft 2016 in Frankreich? Oder war es rund um den Absturz der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Russland 2018?
Zeichen gab es überall. Der Bundestrainer wirkte schon entrückt, noch bevor seine Mannschaft 2014 in Rio triumphierte, wenn er lässig über den Strand am Campo Bahia in Brasiliens Morgensonne joggte. Er lehnte malerisch hingegossen an einer Straßenlaterne in Sotschi, weil er einem Fotografen einen Gefallen tun wollte, während ringsum der deutsche Fußball in Scherben fiel. Als die Nationalmannschaft im vergangenen Herbst von den Spaniern mit 6:0 verhauen wurde, sagte der Bundestrainer: „Jeder darf Kritik äußern, aber ich stehe über den Dingen.“
Nun hat dieser Bundestrainer, Joachim Löw (61), seinen Rücktritt angekündigt. Er bat seinen Arbeitgeber, ihn nach der EM in diesem Sommer aus dem ursprünglich bis 2022 fixierten Vertrag zu entlassen. Der DFB entsprach dieser Bitte.
Zum Nachtreten ist später noch Zeit. Deswegen gab es die üblichen Artigkeiten zum bevorstehenden Abschied. Er habe „großen Respekt vor der Entscheidung“, sagte DFB-Präsident Fritz Keller, „er ist einer der größten Trainer der Welt.“Löw beteuerte: „Ich gehe diesen Schritt ganz bewusst, voller Stolz und Dankbarkeit,“
Es war einmal eine Traumpartnerschaft zwischen dem Verband und dem höflichen Herrn aus dem Schwarzwald mit Wohnsitz in Freiburg. Löw war das fußballerische Gehirn hinter dem großen Renovierer Jürgen Klinsmann. Deutschlands Fußball wurde nach der Jahrtausendwende sehr zu Recht als Rumpelfußball verspottet, die Strukturen im Verband und in der Nachwuchsförderung stimmten nicht, der spielerische Entwurf bei den Auftritten der Nationalmannschaft bestand aus Kraft, Zweikampf und hohen Bällen in die Spitze.
Weil selbst der DFB begriffen hatte, dass es so nicht weitergehen würde, bekam Klinsmann, der Funktionärsschreck,
2004 seine Chance. Er krempelte den Verband auf links, er verlangte andere, leistungsfördernde Strukturen, und er lächelte Bedenken bedingungslos davon. Darüber hinaus war er klug genug zu wissen, dass er selbst als Motivator und öffentlicher Kopf taugt, nicht aber als taktisches Superhirn. Dafür holte er sich Löw als Assistent an seine Seite.
Das war weise. Denn Löw veränderte die Spielweise. Er selbst war ein sehr begabter offensiver Mittelfeldspieler gewesen, der es nie zu den ganz großen Weihen gebracht hatte. Seine Idee vom Fußball hatte er allerdings all die Jahre aufbewahrt. Er glaubt an die Feinheiten des schönen Spiels, er begeistert sich für die von Johan Cruyff begründete Fußballschule des FC Barcelona, die schließlich in Spaniens Herrschaft auf den internationalen Spielfeldern von 2008 bis 2012 mündete. Klinsmann stand für diese neue Jugend-Bewegung im deutschen Fußball, Löw organisierte sie auf dem Feld. Das vielgerühmte Sommermärchen bei der WM 2006 im eigenen Land ist auch sein Verdienst.
Das hatten die Vorgesetzten im DFB erkannt. Deswegen war es folgerichtig, dass Löw Chef wurde, als Klinsmann seine Energie und vielleicht auch seine Ideen verfeuert hatte. Mit ruhiger Hand baute Löw an seiner Vorstellung von Fußball. Eine außerordentliche Generation
von Spielern half ihm dabei. Böse Menschen sind davon überzeugt, dass Löw nur die Klasse seiner Fußballer verwalten musste, um Erfolg zu haben. Sie bestreiten ihm die Qualität als Trainer. Das ist allerdings ebenso unsinnig, wie Helmut Schön, den Meistertrainer der 1970er Jahre, für weniger begabt zu halten, weil er große Spieler zur Verfügung hatte.
Beide haben ihre Teams gebaut, und kein deutscher Bundestrainer hat eine derartige Bilanz wie Löw. Bis zum Absturz in Russland erreichten seine Mannschaften bei fünf großen Meisterschaften jeweils mindestens das Halbfinale. In seiner Amtszeit als Chefcoach erlebte er bei 189 Spielen nur 31 Niederlagen, 120 Spiele gewann seine Elf.
Trotzdem begleitet ihn seit 2014, spätestens seit 2016 eine Aura des Abgehobenen, eines Mannes, der so sehr über den Dingen steht, dass ihn die Dinge selbst nicht mehr erreichen. Der unselige DFB-Präsident Reinhard Grindel fand sich trotzdem ganz toll, als er zunächst ohne Not den Vertrag mit Löw frühzeitig verlängerte und ihn dann nach dem Aus in der WM-Gruppenphase in Russland bereits am Frankfurter Flughafen als den richtigen Mann für einen Neuaufbau pries.
Denn es ist ja wohl so, dass man den dienstältesten Nationaltrainer der Welt nicht so einfach entlässt. Da wird höflich gewartet, bis er selbst das Ende erreicht zu haben glaubt. Ob ihm ein Rücktritt bereits nach dem 0:6 in Spanien nahegelegt wurde, weiß niemand. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen. Und es ist die Frage, ob Löw nun für die EM (wenn die überhaupt in Corona-Zeiten gespielt wird) noch der richtige Mann ist. Vielleicht bekommt die Geschichte ja eine eigene Dynamik.
DFB-Direktor Oliver Bierhoff, der wie immer ungeschoren aus einer Krise herauskommt, und Präsident Keller werden schnell eine Trainerfindungskommission einsetzen, die Löws Nachfolger sucht. Im Gespräch sind der momentan beschäftigungslose Fußballweise Ralf Rangnick, Liverpools Meistercoach Jürgen Klopp, der Leipziger Trainer Julian Nagelsmann und Stefan Kuntz. Der betreut die U 21 des Verbands. Diese Debatte kommt ein halbes Jahr zu spät. Im Herbst aber hatte die DFB-Führung genug damit zu tun, sich intern zu streiten.