Das Projekt zeigt auch den zunehmenden Einfluss Chinas im Nahen Osten.
Ägypten baut mit Hilfe aus dem chinesischen Peking eine neue Verwaltungshauptstadt östlich von Kairo. Kritiker werfen Präsident Abdel Fattah al-Sisi Größenwahn vor.
KAIRO Das größte Parlamentsgebäude des Nahen Ostens, der höchste Wolkenkratzer Afrikas, der höchste Flaggenmast der Welt: Östlich von Kairo entsteht auf 700 Quadratkilometern eine neue Hauptstadt für Ägyptens Regierung und Verwaltung. Die Stadt, die noch keinen Namen hat, soll 2022 fertig sein – auch die Corona-Pandemie kann die Bauarbeiten nicht aufhalten. Kritiker werfen Präsident Abdel Fattah al-Sisi eine teure Großmannssucht vor, die sich das Land nicht leisten kann. Das Projekt demonstriert auch den wachsenden Einfluss Chinas im Nahen Osten.
Bei einem Besuch auf der Baustelle rund 50 Kilometer außerhalb von Kairo ließ sich Sisi kürzlich über den Fortschritt der Arbeiten informieren. Alles an der neuen Verwaltungshauptstadt ist riesig. Die zentrale Moschee soll Platz für mehr als 100.000 Gläubige bieten und Minarette von 140 Metern Höhe erhalten; auch eine große Kirche ist geplant. Das neue Parlamentsgebäude, das von einer der größten Kuppeln der Welt gekrönt werden soll, nimmt dreimal so viel Platz ein wie das bisherige in Kairo. Der Flaggenmast auf dem „Platz des Volkes“soll höher sein als der bisherige Weltrekordhalter im saudischen Dschidda, der es auf 171 Meter bringt.
Sisi stellte die Pläne für die neue Stadt im Jahr 2015 vor, zwei Jahre nachdem er durch einen Staatsstreich gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi an die Macht gekommen war. Mit dem Infrastrukturprojekt, das rund 250.000 Menschen beschäftigt, will der Präsident die ägyptische Wirtschaft ankurbeln. Die fast 50 Milliarden Euro teure neue Stadt gehört zum Kern eines Rahmenplans, mit dem Sisi bis zum Jahr 2030 das Land moderner machen, die Armut bekämpfen und Umweltprobleme lösen will.
Im Juni will Sisi sein Präsidentenbüro in die neue Stadt verlegen, kurz darauf sollen Ministerien, Parlament, Botschaften und Regierung folgen. In einem ersten Schritt sollen 50.000 Beamte vor Ende des Jahres in die Retortenstadt ziehen. Die ersten Wohnungen sind seit Januar fertig, Schulen, Kindergärten, Sportanlagen und Geschäfte sollen bis Jahresmitte stehen. Sisis Traumstadt erhält Anschluss an eine neue Hochgeschwindigkeits-Zugtrasse zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer, die Siemens für 2,5 Milliarden Euro bauen soll. Einen Flughafen bekommt die neue Stadt ebenfalls.
In Zukunft werden nach den Plänen der Behörden rund 6,5 Millionen Menschen auf 20 Wohnviertel verteilt in der neuen Stadt leben und arbeiten. In der „Smart City“sollen die Menschen schnelles Internet haben und ohne Bargeld auskommen. Für alle Dienstleistungen, Einkäufe und den Nahverkehr sollen sie mit einer einzigen elektronischen Karte zahlen können. Die ägyptische Führung ist so stolz auf das Projekt, das sie es schon vor der Fertigstellung ausländischen Gästen zeigt. Im vergangenen Jahr nahm Sisi den französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit auf die Baustelle.
Die Neugründung soll Kairo mit seinen 20 Millionen Menschen und seinen verstopften Straßen entlasten. Der Gedanke, so die stark zentralisierte Besiedlung des Lands zu entzerren, mag einleuchten: Mehr als 90 Millionen der mehr als 100 Millionen Einwohner von Ägypten leben auf nur vier Prozent der Landfläche. Jedes Jahr kommen zwei Millionen neugeborene Ägypter hinzu.
Schon unter dem früheren Präsidenten Hosni Mubarak versuchten die ägyptischen Behörden, mit einem ehrgeizigen Projekt außerhalb von Kairo Abhilfe zu schaffen. „Neu-Kairo“heißt die Siedlung, die südöstlich der ägyptischen Hauptstadt liegt und die für fünf Millionen Menschen gebaut wurde. Sisi hofft, dass seine Verwaltungshauptstadt mehr Erfolg haben wird als die seines Vorgängers: Mubaraks Stadt hat bis heute nur 300.000 Einwohner.
Geht es nach David Sims, einem Stadtplaner und Autor des Buches „Ägyptens Wüstenträume“, sollte sich Sisi seiner Sache nicht allzu sicher sein. Nach den milliardenschweren Investitionen werde der ägyptische Staat das Projekt zwar nicht mehr aufgeben, sagte Sims. Doch es bleibe abzuwarten, ob die Ägypter tatsächlich auch in der neuen Stadt leben wollten. Nach Berechnungen des staatlichen Statistikamtes muss jeder dritte Ägypter mit weniger als 1,20 Euro am Tag auskommen und gilt damit als arm. Damit stellt sich die Frage, wer sich die Neubauwohnungen in Sisis Hauptstadt leisten kann.
Andere Kritiker werfen Sisi vor, er gebe in der neuen Stadt mit vollen Händen das Geld aus, das in der Corona-Krise für die medizinische Versorgung der Bevölkerung gebraucht werde. Ein Kolumnist merkte schon 2015 an, mit den Milliardensummen könnten die Probleme Kairos gelöst werden, ohne dass eine neue Stadt gebaut werden müsse. Auch die Vergeudung wertvoller Ressourcen wird beklagt. So werden in Zukunft jeden Tag 650.000 Kubikmeter Wasser gebraucht, um die geplanten neuen Parkanlagen grün zu halten.
Ursprünglich sollte ein Unternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten die Leitung übernehmen, doch die Investoren stiegen kurz nach Baubeginn aus. Seitdem hat die ägyptische Armee, die in vielen zivilen Bereichen der Wirtschaft aktiv ist, zusammen mit dem Bauministerium die Zügel übernommen: Sisis Gastgeber bei dem kürzlichen Baustellen-Besuch trugen Kampfanzüge. Der Ex-General Sisi ordnete bei der Visite an, dass alle Zeitpläne strikt einzuhalten seien.
Erste sichtbare Fortschritte bei dem Mega-Projekt konnte Sisi bei seinem Besuch bereits in Augenschein nehmen. Im Januar stellten chinesische Arbeiter den ersten von 20 Bürotürmen im geplanten Geschäftsviertel fertig. Die Arbeiten an einem der Prachtstücke des Projekts gehen nach chinesischen Angaben ebenfalls rasch voran. Das chinesische Unternehmen CSCEC, die größte Baufirma der Welt, arbeitet am „Iconic Tower“, der mit 385 Metern das höchste Haus Afrikas werden soll. Der Turm wächst nach Angaben von CSCEC jede Woche um ein Stockwerk.
Das Bürogebäude illustriert die wichtige Rolle Chinas in dem Projekt. Bis zum Jahr 2027 will Peking insgesamt 9,3 Milliarden Euro in Sisis Stadt stecken, das wäre ein Fünftel der Gesamtkosten. Das Engagement bei Sisis Lieblingsprojekt ist Teil von Bemühungen Peking, im Nahen Osten stärker Fuß zu fassen. CSCEC baut die 20 Bürotürme, eine andere chinesische Firma errichtet eine Bahnverbindung zwischen Kairo und der neuen Hauptstadt. Laut chinesischen Medienberichten ist China außerdem der größte Investor bei der Erweiterung des Suezkanals, die ebenfalls zu Sisis Modernisierungsprogramm gehört.
Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens ist China aktiv. Dabei geht es Peking erstens um die Sicherung der eigenen Energieversorgung: Fünf der zehn größten Öl-Lieferanten Chinas liegen in der Region. Zweitens sieht China
im Nahen Osten gute Investitionsmöglichkeiten für seine großen Unternehmen und Banken. Drittens streckt Peking auch sicherheitspolitisch die Fühler aus, etwa mit der Errichtung eines Militärstützpunkts in Dschibuti im Jahr 2016, der ersten chinesischen Militärbasis im Ausland überhaupt.
In Chinas strategischem Plan für eine Neue Seidenstraße – das Programm „Belt and Road Initiative“(BRI) – ist der Nahe Osten als Scharnier zwischen Asien, Afrika und Europa wichtig. Chinas Präsenz in der Region wird deshalb weiter wachsen, besonders in Ägypten. Das Land ist für Peking besonders bedeutend, weil der Suez-Kanal für den weltweiten Verkehr von Container-Frachtern unverzichtbar ist. Sisis neue Hauptstadt bietet eine gute Gelegenheit, sich der ägyptischen Regierung zu empfehlen. Auf der Baustelle sind rund 1000 Arbeiter und 800 Ingenieure aus China an den Hochhäusern beschäftigt.
Chang Weicai, der Chef von CSCEC in Ägypten, kündigte an, ab Ende des Jahres werde ein Büroturm nach dem anderen an die Ägypter übergeben. Für Ägypten sei die neue Stadt „eine goldene Chance für die Wirtschaftsentwicklung“. Seine Firma freue sich, daran teilzuhaben.