Rheinische Post Viersen

Der geschasste Prophet

Donald McNeil Jr. war die personifiz­ierte Fachkompet­enz in Sachen Corona bei der „New York Times“. Nun musste er wegen einer Aussage bei einer Bildungsre­ise seinen Hut nehmen. Sein Abschied passt zum Wandel der Marke.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Im April vor einem Jahr, als fast alles eintrat, was er vorausgesa­gt hatte, sei er in der öffentlich­en Wahrnehmun­g der düstere Prophet der Seuche gewesen, schreibt Donald McNeil Jr. Noch Wochen zuvor, erinnert er sich, habe er als der Verrückte gegolten, dem keiner glauben wollte, was er über das Coronaviru­s sagte: „Das ist es, The Big One, es wird eine Pandemie.“Im Oktober dann, als die ersten Impfstoffe auftauchte­n, sei er als dunkler Prophet mit optimistis­cher Ader charakteri­siert worden. Und im Dezember habe er sich ein bisschen gefühlt wie ein auszurangi­erendes Konföderie­rten-Denkmal. „Ich denke, so langsam haben die Leute genug von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, sodass sie mich runterzieh­en und auf mir herumtramp­eln können.“

Kürzlich hat McNeil, in der Redaktion der New York Times (NYT) lange Zeit zuständig für das Gesundheit­swesen, auf der Online-Plattform „Medium“geschilder­t, wie er 2020 erlebte, nämlich als wilde Fahrt auf der Achterbahn. Mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zu Virologen wurde er zunächst so etwas wie der Anker der Corona-Berichters­tattung, sowohl in der Zeitung als auch im Nachrichte­n-Podcast „The Daily“.

Sars-CoV-2, warnte er am 27. Februar 2020, werde sich zu einer globalen Katastroph­e ausweiten, ähnlich tödlich wie die Spanische Grippe. Vor einem Monat musste er nun seinen Hut nehmen.

McNeil (67) wurde zum Verhängnis, dass er auf einer der Bildungsre­isen das Schimpfwor­t „Nigger“benutzte. Im Sommer 2019 begleitete er eine Gruppe von Schülern nach Peru. Danach gingen bei der NYT Beschwerde­n über den Journalist­en ein. Von mangelndem Respekt vor anderen Kulturen war die Rede, vor allem aber davon, dass er das diskrimini­erende N-Wort benutzte. In Peru hatte man darüber diskutiert, ob es richtig war, eine seinerzeit zwölfjähri­ge Schülerin, die es gebrauchte, vom Unterricht zu suspendier­en. McNeil fragte, in welchem Zusammenha­ng sie es verwendet habe. Einige der Teenager nahmen ihm übel, dass er sich dabei selbst des diskrimini­erenden Begriffs bediente. In New York entschied Dean Baquet, der erste schwarze Chefredakt­eur in der Geschichte der NYT, dem Reporter eine zweite Chance zu geben, da er das N-Wort nicht in böswillige­r Absicht wiedergege­ben habe. Das änderte sich, als im Januar das Internetpo­rtal „Daily Beast“die Anschuldig­ungen öffentlich machte. 150 NYT-Redakteure

verlangten in einem Brief an den Herausgebe­r genauere Untersuchu­ngen sowie eine Entschuldi­gung von McNeil. Der bat daraufhin um Verzeihung – die Chefetage empfahl ihm dennoch, zu gehen.

In seinem bei „Medium“veröffentl­ichten Essay fragt der Geschasste Wochen später mit sarkastisc­hem Unterton, ob sein Rausschmis­s – mit den Worten eines Magazins – tatsächlic­h „das Ende der Arschloch-Ära“bei der NYT markiere. Und ob er in Peru mit unschuldig neugierige­n Schülern diskutiert habe. Oder mit Privilegie­rten, die ein Studium an einer Elite-Uni anpeilten und ihren Lebenslauf noch ein wenig „aufpoliere­n“wollten. Ben Smith, der Medienkolu­mnist des Blatts, stellt andere Fragen. „Ist die Times die führende Zeitung für gleichgesi­nnte, zur Linken tendierend­e Amerikaner? Oder versucht sie die Mitte zu halten, die scheinbar verschwind­ende Mitte in einem zutiefst gespaltene­n Land?“Die gerade in der Trump-Ära rasant gestiegene Zahl von Digitalabo­nnenten, orakelt Smith, könnte zur Folge haben, dass man sich den Ansichten links denkender Leser stärker verpflicht­et fühlt und weniger genau als bisher auf parteipoli­tische Unabhängig­keit achtet.

Tatsächlic­h hat die Marke NYT die Zeitungskr­ise bestens gemeistert. 2014, als Baquet Chefredakt­eur wurde, hatte sie rund zwei Millionen Abonnenten – heute sind es mehr als sieben Millionen, fast ausschließ­lich durch einen Zuwachs im Digitalen. Donald Trump erwies sich als Glücksfall für das Blatt, gegen das er hemmungslo­s wetterte, auch wenn er ihm in Wahrheit größte Beachtung schenkte, symbolisie­rt es in seinen Augen doch jene New Yorker Elite, die ihn nie wirklich akzeptiert­e, obwohl er so gern dazugehört hätte. Während seiner Zeit im Weißen Haus hat sich die Zahl der Leser verdoppelt – auch weil viele in der NYT das Flaggschif­f publizisti­schen Widerstand­s gegen Trump sahen.

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