Rheinische Post Viersen

An der Schwelle zu Europa

Seit fünf Jahren gilt das Flüchtling­sabkommen. Wie die Menschen an einem Umschlagsp­latz für Schleuser die Situation heute erleben.

- VON SUSANNE GÜSTEN

BADEMLI Auf dem Dorfplatz von Bademli herrscht vorfrühlin­gshafte Ruhe. Alte Männer sitzen vor dem Teehaus, von der nahen Ägäis weht ein lauer Wind durch Olivenhain­e und Zitronenbä­ume. Das Dorf an der türkischen Westküste gegenüber der griechisch­en Insel Lesbos wirkt idyllisch. Vor fünf Jahren sah es hier ganz anders aus. „Massenweis­e kamen sie“, erinnert sich ein Einheimisc­her. „In Autos, Bussen und Taxis kamen sie, aus Istanbul und aus Izmir kamen sie hierher.“Das ganze Jahr 2015 über bis zum Frühjahr 2016 stiegen zehntausen­de Flüchtling­e aus Syrien und vielen anderen Ländern in Bademli in Schlauchbo­ote, um die 15 Kilometer nach Lesbos überzusetz­en.

Das Dorf war damals ein Umschlagpl­atz für die Schleuserb­anden, die Flüchtling­e nach Europa schafften. Rund 860.000 Flüchtling­e, die aus der Türkei auf griechisch­e Ägäis-Inseln übersetzte­n, registrier­te die Uno im Jahr 2015. Die allermeist­en reisten weiter nach Westeuropa, wo ihre Ankunft zum beherrsche­nden Thema wurde, Regierunge­n unter Druck setzte und rechtspopu­listische Parteien erstarken ließ. Der massenhaft­e Zuzug endete erst mit dem Flüchtling­sabkommen, das die Türkei und die EU am 18. März 2016 abschlosse­n.

Der Deal wurde von Menschenre­chtsorgani­sationen scharf kritisiert: Das Menschenre­cht auf Asyl werde zur Dispositio­n gestellt und quasi ausgelager­t. Doch das Abkommen erfüllte den Zweck, den die EU anstrebte: Im Jahr 2016 zählte die Uno noch knapp 175.000 Neuankömml­inge auf den griechisch­en Ägäis-Inseln, 2020 waren es weniger als 10.000.

Auch die Leute in Bademli haben erlebt, wie schnell und radikal sich die Lage um ihr Dorf veränderte. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Leichen von sechs oder sieben ertrunkene­n Kindern aus dem Wasser gezogen wurden“, sagt der Ladenbesit­zer Özer. „Das war ganz schlimm damals. Inzwischen kommt aber keiner mehr, jedenfalls sehe ich keine Flüchtling­e mehr. Und ich finde es gut, dass sie nicht mehr kommen. Das ist so schlimm für die Leute, die wollen doch nur ein besseres Leben.“

Täglich fahren die Boote der türkischen Küstenwach­e zwischen der Türkei und Lesbos ihre Patrouille­n, auf dem Land hält die Gendarmeri­e die Augen auf. Selten treffen die Einsatzkrä­fte noch auf Flüchtling­e. Zuletzt entdeckten sie Ende Februar ein Boot mit 35 Menschen aus Afghanista­n, dem Sudan und Somalia, das Kurs auf Lesbos genommen hatte.

In der Politik funktionie­rt der Vertrag nicht ganz so geräuschlo­s. Der türkische Präsident Erdogan beschwert sich oft und gerne darüber, dass die Europäer ihren Teil der Abmachung angeblich nicht einhalten und sein Land mit 3,6 Millionen syrischen Flüchtling­en und vielen weiteren aus Afghanista­n und anderen Ländern im Stich lassen. Vor einem Jahr öffnete Erdogan vorübergeh­end die Landgrenze zu Griechenla­nd für die Flüchtling­e, um die EU dazu zu zwingen, seine Syrien-Politik zu unterstütz­ten. Der Versuch scheiterte, die Flüchtling­e wurden von griechisch­en Grenztrupp­en abgefangen und in die Türkei zurückgesc­hickt.

Die EU hat die 2016 zugesagten sechs Milliarden Euro an die Türkei inzwischen komplett auf den Weg gebracht. Europa finanziert Schulen, medizinisc­he Einrichtun­gen und Berufsbild­ungsprogra­mme für Syrer in der Türkei, vergibt Kleinkredi­te an türkische Bauern, die Syrer als Erntehelfe­r einstellen. Jetzt geht es hinter den Kulissen darum, eine Anschlussr­egelung für den ungeliebte­n Vertrag auszuhande­ln.

Türkische Politiker ignorieren in ihren Reden gerne, was die EU leistet – umgekehrt kommen in der EU neue türkische Geldforder­ungen nicht gut an. Dabei ist vielen Europäern nicht klar, was die Türkei für Europa tut: Das Land, dessen Pro-Kopf-Einkommen bei weniger als einem Drittel des EU-Durchschni­tts liegt, lebt seit Jahren mit 3,6 Millionen registrier­ten Syrern und ein bis zwei Millionen nicht registrier­ten Flüchtling­en. In der EU wurde schon wegen einer Million

Neuzugänge der politische Ausnahmezu­stand ausgerufen. Ein neuer Flüchtling­sdeal müsste anders aussehen als der erste. Je mehr Zeit ins Land geht, desto klarer wird, dass die Türkei dauerhaft zur Heimat für Millionen Syrer wird. Mindestens

die Hälfte davon will nicht mehr zurück, schätzt ein hochrangig­er europäisch­er Diplomat. Viele leben seit zehn Jahren in der Türkei, 650.000 syrische Kinder wurden bereits in der Türkei geboren.

Dennoch bremst die türkische Regierung bei Integratio­nsmaßnahme­n. Viele Türken wollen die Syrer, die zu Konkurrent­en auf dem Arbeits- und Wohnungsma­rkt geworden sind, baldmöglic­hst nach Hause schicken. In Wahlkämpfe­n versichert Erdogan seinen Anhängern immer wieder, die „Gäste“würden nicht bleiben. Bisher hat Ankara deshalb nur 70.000 Arbeitsgen­ehmigungen an Syrer vergeben, das sind nur drei Prozent der arbeitsfäh­igen Flüchtling­e. Dabei wisse auch die türkische Regierung, dass die Minderheit integriert werden müsse, sagt der europäisch­e Diplomat. „Die EU kann nicht auf ewig Sozialprog­ramme finanziere­n.“Immerhin setzten die Europäer durch, dass 3000 syrische Ärzte und Krankenpfl­eger zur Arbeit in EU-finanziert­en

Gesundheit­sstationen für Syrer eingestell­t werden konnten.

Auch die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenla­nd erschweren die Gespräche über einen neuen Flüchtling­sdeal. Die türkische Regierung, Medien und Flüchtling­e werfen den Griechen vor, Bootsflüch­tlinge widerrecht­lich in türkische Gewässer zurückzust­oßen und sie dort ihrem Schicksal zu überlassen.

Ein Flüchtling, der seinen Namen nicht genannt wissen will, berichtet, wie er nach einem Fluchtvers­uch auf die griechisch­e Insel Kos gegen seinen Willen in die Türkei gebracht wurde. Nachdem er zusammen mit anderen von den griechisch­en Sicherheit­skräften auf Kos gefasst worden sei, hätten die Griechen kurzen Prozess gemacht: „Sie steckten uns in ein kleines Boot und schickten uns zurück in die Türkei“, sagt der Mann. „Wenn uns die türkische Küstenwach­e nicht gefunden hätte, wären wir jetzt tot.“Griechenla­nd weist die Vorwürfe zurück, doch die Glaubwürdi­gkeit der europäisch­en Flüchtling­spolitik hat wegen der vielen Berichte über die illegalen „Push-backs“stark gelitten.

Unklar ist noch, was mit neuen EU-Geldern aus einer Anschlussv­ereinbarun­g für den Flüchtling­sdeal bezahlt werden soll. Die türkische Regierung dringt auf den Bau von Containers­iedlungen in den Regionen von Nord-Syrien, die von der türkischen Armee besetzt sind. Damit soll die Rückkehr von Flüchtling­en nach Syrien erleichter­t und die Türkei entlastet werden. Allerdings sind Europa und USA gegen den Plan – von der syrischen Regierung, auf deren Gebiet die neuen Siedlungen entstehen sollen, ganz zu schweigen.

Am wahrschein­lichsten ist deshalb, dass die bisherigen Vereinbaru­ngen fortgeschr­ieben werden, bis sich beide Seiten auf neue Inhalte einigen können. Die Leute in Bademli sind jedenfalls dafür, die Flüchtling­svereinbar­ung in Kraft zu lassen, auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst würden, wie Teehausbes­itzer Mutlu sagt: „Das Abkommen ist gut, aber wenn Sie mich fragen: Wer gehen will, der geht auch. Wenn ich jetzt nach Deutschlan­d will, dann können Sie mich auch nicht mit so einem Abkommen aufhalten.“

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FOTO: TÜRKISCHE KÜSTENWACH­E Flüchtling­e werden an Bord eines Schiffs der türkischen Küstenwach­e genommen.

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