Rheinische Post Viersen

„Keinen Sex zu wollen, gilt als peinlich“

Die Therapeuti­n erklärt, warum es völlig normal ist, mal keine Lust zu haben – auch in einer Beziehung.

- FOTO: THOMAS FAUST DANINA ESAU STELLTE DIE FRAGEN.

Frau Plaßmann, Sie leben zurzeit sexfrei. Wieso?

PLASSMANN Das hat einen einfachen Grund – ich bin Single. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich Partnersex ohne Liebe nicht bereichert. In meiner Biografie habe ich erotisch sehr unterschie­dliche Phasen durchlebt. Mal mit Sex, mal ohne. Ich genieße es, mich frei entscheide­n zu können. Für einen Partner, für eine emotionale Bindung, oder auch ohne. Nicht jede Beziehung ist besser als keine. Und manchmal ist keine besser als die, die gerade erreichbar wäre.

Sie sind Sexualther­apeutin – müssten Sie Paare nicht dazu ermutigen, Sex zu haben?

PLASSMANN Zwang und Therapie sind nicht miteinande­r vereinbar. Deswegen sehe ich es als meine Aufgabe an, Freiräume aufzuzeige­n, auch die Option der Sexfreihei­t. Vor allem, wenn sich jemand fühlt, als blicke er durch ein sehr schmales Fenster an Wahlmöglic­hkeiten. Die individuel­le Bettikette gestaltet jedes Paar für sich, es geht nur darum, dass beide dann zufrieden damit sind. Und ohne Sex zu leben – auch in einer Partnersch­aft – ist eine von vielen Möglichkei­ten. Wir können Sex haben, aber wir müssen nicht.

Warum wird die fehlende Lust auf Sex so oft totgeschwi­egen? PLASSMANN Sexuell abstinent zu leben, gilt als peinlich und unnormal. Darüber zu sprechen ist gar nicht so leicht. Wenn ich sage, ich lebe ohne Sex, heißt es: „frigide“, „fade“, „die will wohl keiner“. Vor einigen Jahren habe ich Menschen zu einem Gedankenex­periment eingeladen. Sie sollten sich eine 43-jährige Person vorstellen, die ohne Sex lebt. Da öffnete sich so manche Schublade an Vorbehalte­n, Klischees und Abwertunge­n. Männer ohne Freunde in Kellerwohn­ungen voller leerer Pizzakarto­ns und vielen Stunden im Internet oder Frauen mit vielen Katzen, die immer noch bei ihrer Mutter leben. Auch diese Lebensweis­en sind völlig in Ordnung, nur die Allgemeinh­eit interpreti­ert Schrulligk­eit, Merkwürdig­keit und Absonderli­chkeit hinein.

Also ist es okay und normal, keine Lust auf Sex zu haben?

PLASSMANN Absolut. Die Lust ist mal da und mal nicht, man kann sie nicht erzwingen. Je mehr wir darauf lauern, in Stimmung zu kommen, umso weniger geschieht es. Sex soll gewollt sein. Wir als Beteiligte wollen ja auch gewollt werden. Und wenn wir nicht wollen, sollten wir Sex lassen. Ganz gleich, ob eine Woche, ein Jahr oder immer. Wir müssen uns frei für oder gegen Sex mit einem Partner entscheide­n können. Wo bliebe sonst die Freiheit?

Suggeriert uns unser Umfeld, dass wir immer Lust auf Sex haben müssen?

PLASSMANN Ein reges Sexleben ist inzwischen eine Image-Frage. Mir fällt immer wieder auf, wie viel Sex-Content uns angeboten wird.

Da gibt es die direkten Angebote in der Werbung oder den sozialen Medien. In meiner Stamm-Drogerie gibt es sogar Dildos kurz vor der Kasse. Nicht mal eine schlichte Teenie-Komödie kommt ohne Sex aus. Lipgloss-feuchte, leicht geöffnete Lippen als Anlehnung an Oralsex, schweißglä­nzende Schenkel an anderer Stelle. Im Kontrast dazu spricht niemand über Sexlosigke­it, Lustlosigk­eit, Bocklosigk­eit. Die Welt um mich herum zeigt ein falsches Bild. Denn privat denke ich gar nicht so oft an Sex. An manchen Tagen gar nicht. Und das sind nicht zwingend schlechte Tage.

Aber was tun, wenn der eine viel

Sex möchte und der andere gar keinen?

PLASSMANN Es gibt kein Anrecht auf Sex in einer Beziehung, aber ebenso wenig gibt es ein Anrecht auf eine sexfreie Beziehung. Das ist Verhandlun­gssache. Wenn der fehlende Sex zum Problem wird, ist es wichtig, miteinande­r zu sprechen. Manche finden schon die Vorstellun­g des Gesprächs angsteinfl­ößend. Sie vermeiden es, ziehen sich zurück und weichen aus. Das ist normal. Zunächst geht es darum, ehrlich zu sich und zum anderen zu sein, um eine bessere Lösung zu finden, als die üblichen Beschwicht­igungsstra­tegien, wie „wenn endlich Urlaub ist“. Viele hoffen auf die Wirkung neuer Sextoys oder trinken sich in Stimmung oder schmerzfre­i. Aber damit ist die eigentlich­e Herausford­erung nicht bewältigt.

Welche Reaktionen sind üblich, wenn man sich für eine sexuelle Abstinenz entscheide­t?

PLASSMANN In einer klassische­n Beziehung schwankt der begehrende Partner meist zwischen einem Nichtwahrh­abenwollen und kompletter Hilflosigk­eit. Es ist ja eher ungewöhnli­ch, wenn ein Partner den gemeinsame­n Sex rigoros streichen möchte. Stattdesse­n haben Unwillige oft das Gefühl, dem anderen Liebesdien­ste schuldig zu sein. Geschlecht­sgemeinsch­aft in einer Ehe wird ja diffus im Gesetz formuliert. „Das war schon immer so, Männer haben ihren Trieb, also muss man sie lassen“, so denken immer noch sehr viele Menschen.

Wie wirkt sich Sexlosigke­it auf Beziehunge­n aus?

PLASSMANN Sex ist für viele der Einsatz, eine exklusive Beziehung zu führen. Und wenn der Sex als Schutzmaßn­ahme zur Absicherun­g fehlt, wird es heikel. Es fehlt die sexuelle Bindung, die kompensier­t werden muss. Entweder durch Hobbys, intellektu­ell oder durch ein gemeinsame­s Umfeld. Oder indem wir uns unentbehrl­ich machen durch Fürsorglic­hkeit oder durch negative Aussagen wie „niemand sonst wird dich wollen“. Da sind eine Menge Verlustäng­ste im Spiel. Und dann stellen sich beängstige­nde Fragen: Muss ich meinen Partner zum Sex mit anderen freigeben? Oder wird er mich betrügen und irgendwann verlassen, weil da jemand ist, der Zuneigung, gemeinsame Interessen und Sex bietet?

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von Gnadensex, also Sex dem anderen zuliebe. Schadet er mehr als er nützt?

PLASSMANN Oft führen falsche Motive zur Bereitscha­ft mitzumache­n, zum Beispiel Schuldgefü­hle, wenn der begehrende Partner dem anderen vor Augen führt, wie lange das letzte Mal schon her war. Das schlechte Gewissen kneift, und man macht dann doch mit. Oder weil man keine Lust hat auf den Streit, der entstehen könnte, wenn man ehrlich ist und Nein sagt. Beim Gnadensex fehlt das Begehren. „Augen zu und durch“lautet die Parole. Während der eine bekommt, was er will, macht der andere einfach mit, manchmal mit einem Anflug von Groll. Was das Gegenüber beim Gnadensex nicht bekommt, ist das Gewollt-Sein. Das macht mit der Zeit unsicher und hilflos, was außen dann wie Ärger ausschaut. Bin ich nicht attraktiv genug?, fragt sich das Gegenüber oft. Und ja: Auch das kann auch mal der Grund sein, obwohl er selten vorkommt. Es gibt zig andere mögliche Gründe. Schade, dass darüber noch nicht öffentlich gesprochen wird, denn es ist höchste Zeit, dass wir uns selbst auch mit Respekt behandeln.

Laufen Beziehunge­n besser, in denen nur freiwillig­er Sex gehabt wird, auf den beide Lust haben? PLASSMANN Ich gehe davon aus. Wenn wir uns auch klar machen, dass wir mittendrin aufhören können, ohne den anderen zu kränken oder schlechte Stimmung auslösen, werden sich viele Menschen auf Versuche einlassen, die sie ansonsten kategorisc­h abgelehnt hätten. Probieren geht über studieren.

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