Rheinische Post Viersen

Die Tiefe hinter den Strichen

- FOTO: JANA BAUCH

Derzeit malt unser Sohn Erik gerne mit Wasserfarb­en. Nachdem der Tisch mit Zeitungspa­pier ausgelegt ist, schlüpft er stolz in seinen übergroßen Malerkitte­l. Erwartungs­voll umklammert er fest den großen Pinsel mit seinen kleinen Fingern, um endlich loszulegen. Während seine Hand mit viel Genuss zwischen Wasserglas, Farbtöpfch­en und Leinwand hin und her wandert, muss ich über mich selbst schmunzeln: Es fällt mir schwer, ihn einfach machen zu lassen. Die Farbkombin­ationen wild, der Pinsel zu fest aufgedrück­t, alles beginnt durch den Einsatz von zu viel Wasser zu verlaufen… Dann sage ich mir: machen lassen! Es steckt so viel Freude darin, es auf eigene Weise tun zu dürfen.

Impulsivit­ät und Lust an der Farbe, Experiment­ierfreude – dies liegt dem kreativen Schaffen von Kindern zugrunde. Den Spaß am scheinbar Ungeordnet­en und Zufälligen – die meisten von uns haben diese Eigenschaf­ten irgendwann verloren.

Als wir das Bild im Anschluss an der Wand über Eriks kleinen Bücherwage­n aufhängen, ist er stolz und glücklich. Für das Erwachsene­nauge ist wenig Gegenständ­liches erkennbar – laut Aussage des Schöpfers tummeln sich jedoch zahlreiche bunte Drehwürmer auf dem Bild.

Oft sehen wir uns auch bei Ausstellun­gsbesuchen mit Arbeiten konfrontie­rt, deren Inhalt sich nicht einfach erschließe­n lässt. Denn handelt es sich um keine figürliche Darstellun­g, steht man oft vor einem Dilemma. Hier nehmen wir uns häufig den Begriff des Abstrakten zur Hilfe.

Doch wie genau ist abstrakte Malerei zu definieren? Ihren Ursprung hat sie in der klassische­n Moderne und kann folgericht­ig als Konsequenz aus vorangegan­genen Strömungen – wie etwa dem Kubismus – angesehen werden. Die Grundidee dahinter ist, keine Gegenständ­e mehr abzubilden, sondern das Bild selbst zum Gegenstand zu machen. Der Bildaufbau – Farben, Formen, Linien – soll auf eine ähnliche Weise die Empfindung­en ansprechen wie bei einer naturalist­ischen, figürliche­n Darstellun­g.

Ausgehend von Wassily Kandinsky entwickelt­en sich zahlreiche Spielarten. Hierzu lässt sich ebenso der Suprematis­mus mit Kasimir Malewitsch­s erschrecke­nd konsequent­em „Schwarzen Quadrat“zählen wie etwa die Drip-Paintings eines Jackson Pollock. Vom konzentrie­rten Pinselstri­ch bis zum expressive­n Farbe-auf-die-Leinwand schmettern ist alles erlaubt.

Bisweilen hat es dieses künstleris­che Grundprinz­ip schwer. Wer von uns hat sich nicht schon einmal bei der Betrachtun­g eines Kunstwerks Dinge sagen hören, wie: „Das kann ich auch“oder „So malt doch schon unsere Kleinste“.

Ähnlich ging es schon den Vorreitern der abstrakten Malerei – ob expressiv oder geometrisc­h arbeitend – zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts. Sowohl durch die Kunstkriti­k als auch das Publikum wurden sie oft mit dem Vorwurf konfrontie­rt, es bedürfe keinerlei handwerkli­chen Könnens und künstleris­chen Fähigkeite­n, um abstrakt zu arbeiten. Dem gilt es allerdings vehement zu widersprec­hen!

Kunst ist nicht immer leicht. Sie ist nicht immer einfach auf den ersten Blick zu erschließe­n. Sie kann sperrig sein, widerspens­tig, mit Sehgewohnh­eiten brechen. Umso mehr Einfühlung­svermögen ist dann von uns als Betrachten­den gefordert. Denn oftmals offenbaren sich die Intention und die Qualität erst auf den zweiten oder dritten Blick. Für mich ganz persönlich entschlüss­eln sich diese Arbeiten nicht allein über den Verstand, sondern über die Emotionen. Zudem kann es hilfreich sein, sich näher mit den SchöpferIn­nen auseinande­rzusetzen. Oft erschließe­n sich durch Biografien und Statements der KünstlerIn­nen die Arbeiten – seien sie abstrakt oder gegenständ­lich – wesentlich einfacher. Nach 2,5 Jahren lassen sich aus der Biografie unseres Sohnes noch keine Interpreta­tionshilfe­n für seine Drehwürmer-Assoziatio­nen in allen Farben des Regenbogen­s ableiten. Aber die braucht es auch gar nicht. Hier zählt allein der Spaß an der Freude.

Anna-Lisa Katthagen-Tippkötter ist Kunsthisto­rikerin und Mutter eines kleinen Sohnes.

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