Die Tiefe hinter den Strichen
Derzeit malt unser Sohn Erik gerne mit Wasserfarben. Nachdem der Tisch mit Zeitungspapier ausgelegt ist, schlüpft er stolz in seinen übergroßen Malerkittel. Erwartungsvoll umklammert er fest den großen Pinsel mit seinen kleinen Fingern, um endlich loszulegen. Während seine Hand mit viel Genuss zwischen Wasserglas, Farbtöpfchen und Leinwand hin und her wandert, muss ich über mich selbst schmunzeln: Es fällt mir schwer, ihn einfach machen zu lassen. Die Farbkombinationen wild, der Pinsel zu fest aufgedrückt, alles beginnt durch den Einsatz von zu viel Wasser zu verlaufen… Dann sage ich mir: machen lassen! Es steckt so viel Freude darin, es auf eigene Weise tun zu dürfen.
Impulsivität und Lust an der Farbe, Experimentierfreude – dies liegt dem kreativen Schaffen von Kindern zugrunde. Den Spaß am scheinbar Ungeordneten und Zufälligen – die meisten von uns haben diese Eigenschaften irgendwann verloren.
Als wir das Bild im Anschluss an der Wand über Eriks kleinen Bücherwagen aufhängen, ist er stolz und glücklich. Für das Erwachsenenauge ist wenig Gegenständliches erkennbar – laut Aussage des Schöpfers tummeln sich jedoch zahlreiche bunte Drehwürmer auf dem Bild.
Oft sehen wir uns auch bei Ausstellungsbesuchen mit Arbeiten konfrontiert, deren Inhalt sich nicht einfach erschließen lässt. Denn handelt es sich um keine figürliche Darstellung, steht man oft vor einem Dilemma. Hier nehmen wir uns häufig den Begriff des Abstrakten zur Hilfe.
Doch wie genau ist abstrakte Malerei zu definieren? Ihren Ursprung hat sie in der klassischen Moderne und kann folgerichtig als Konsequenz aus vorangegangenen Strömungen – wie etwa dem Kubismus – angesehen werden. Die Grundidee dahinter ist, keine Gegenstände mehr abzubilden, sondern das Bild selbst zum Gegenstand zu machen. Der Bildaufbau – Farben, Formen, Linien – soll auf eine ähnliche Weise die Empfindungen ansprechen wie bei einer naturalistischen, figürlichen Darstellung.
Ausgehend von Wassily Kandinsky entwickelten sich zahlreiche Spielarten. Hierzu lässt sich ebenso der Suprematismus mit Kasimir Malewitschs erschreckend konsequentem „Schwarzen Quadrat“zählen wie etwa die Drip-Paintings eines Jackson Pollock. Vom konzentrierten Pinselstrich bis zum expressiven Farbe-auf-die-Leinwand schmettern ist alles erlaubt.
Bisweilen hat es dieses künstlerische Grundprinzip schwer. Wer von uns hat sich nicht schon einmal bei der Betrachtung eines Kunstwerks Dinge sagen hören, wie: „Das kann ich auch“oder „So malt doch schon unsere Kleinste“.
Ähnlich ging es schon den Vorreitern der abstrakten Malerei – ob expressiv oder geometrisch arbeitend – zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sowohl durch die Kunstkritik als auch das Publikum wurden sie oft mit dem Vorwurf konfrontiert, es bedürfe keinerlei handwerklichen Könnens und künstlerischen Fähigkeiten, um abstrakt zu arbeiten. Dem gilt es allerdings vehement zu widersprechen!
Kunst ist nicht immer leicht. Sie ist nicht immer einfach auf den ersten Blick zu erschließen. Sie kann sperrig sein, widerspenstig, mit Sehgewohnheiten brechen. Umso mehr Einfühlungsvermögen ist dann von uns als Betrachtenden gefordert. Denn oftmals offenbaren sich die Intention und die Qualität erst auf den zweiten oder dritten Blick. Für mich ganz persönlich entschlüsseln sich diese Arbeiten nicht allein über den Verstand, sondern über die Emotionen. Zudem kann es hilfreich sein, sich näher mit den SchöpferInnen auseinanderzusetzen. Oft erschließen sich durch Biografien und Statements der KünstlerInnen die Arbeiten – seien sie abstrakt oder gegenständlich – wesentlich einfacher. Nach 2,5 Jahren lassen sich aus der Biografie unseres Sohnes noch keine Interpretationshilfen für seine Drehwürmer-Assoziationen in allen Farben des Regenbogens ableiten. Aber die braucht es auch gar nicht. Hier zählt allein der Spaß an der Freude.
Anna-Lisa Katthagen-Tippkötter ist Kunsthistorikerin und Mutter eines kleinen Sohnes.