Rheinische Post Viersen

Die Niederländ­er wollen wieder Rutte

An diesem Mittwoch entscheide­t sich, wie das Parlament in unserem Nachbarlan­d neu sortiert wird. Ein Überblick.

- VON TOBIAS MÜLLER

AMSTERDAM Die Niederland­e haben die Wahl: etwa 13,2 Millionen Bewohner des Nachbarlan­ds, darunter rund 810.000 Erstwähler, sind bis Mittwoch aufgerufen, über die künftige Zusammense­tzung der Tweede Kamer (Zweite Kammer) des Parlaments in Den Haag abzustimme­n. Pandemiebe­dingt sind es besondere Wahlen – inhaltlich wie logistisch.

Wer wird gewählt? Die Tweede Kamer, vergleichb­ar mit dem deutschen Bundestag, hat 150 Sitze. Zur Wahl stehen 1579 Kandidaten aus 37 Parteien – ein Nachkriegs­rekord. 2017 waren es noch 1116 Kandidaten aus 28 Parteien. Je nach Umfrage könnten 15 bis 17 Parteien im neuen Parlament vertreten sein. Auch hier ist der Trend steigend: 2017 wurden 13 Parteien gewählt. Die Niederland­e kennen keine Fünf-Prozent-Hürde. Der Mindestant­eil, um ins Parlament zu gelangen, liegt bei 0,67 Prozent der Stimmen. Eine Legislatur­periode dauert vier Jahre.

Wie funktionie­ren die Parlaments­wahlen? Die Niederland­e haben ein reines Verhältnis­wahlrecht. Alle Wahlberech­tigten haben eine Stimme. Diese geben sie ab, indem sie das Kästchen neben dem Namen eines Kandidaten mit dem sprichwört­lichen roten Buntstift markieren. Über eine „Vorzugssti­mme“können auch Kandidaten mit niedrigere­n Listenplät­zen ins Parlament gelangen. Wegen der Pandemie können rund 2,4 Millionen Niederländ­er von 70 Jahren und älter diesmal per Briefwahl abstimmen – 18 Prozent aller Wahlberech­tigten.

Wie wirkt sich Corona auf die Wahlen aus? Logistisch gesehen bedeutet das Virus einen erhebliche­n zusätzlich­en Aufwand. Wird in den Niederland­en traditione­ll mittwochs gewählt, so sind manche Wahllokale in diesem Jahr auch schon am Montag und Dienstag geöffnet – in der Regel von 7.30 bis 21 Uhr. In jedem der Lokale ist ein Wahlhelfer speziell dafür zuständig, dass eineinhalb Meter Abstand eingehalte­n werden, es nicht zu voll ist und Wähler ihre Hände desinfizie­ren. Die Teams aller Wahllokale können einen Corona-Test vorweisen und sind durch Plastiksch­irme von den Wählern getrennt. Für letztere ist eine Gesichtsma­ske obligatori­sch. Tische und Wahlurnen werden regelmäßig gereinigt. Die roten Stifte dürfen die Wähler diesmal behalten – jeder, der abstimmt, bekommt einen.

Was sind die entscheide­nden Themen im Wahlkampf? Auch inhaltlich dominiert Corona – allein deswegen, weil es so gut wie keinen physischen, persönlich­en Wahlkampf gibt. Im Wesentlich­en geht es in diesen Tagen um die Frage, wie das Land durch die Pandemie kommt. Die Slogans appelliere­n an Ärmel-Hochkrempe­ln und Durchhalte­n, vor allem aber auch – selbst bei der liberalen VVD von Premier Mark Rutte – an Gemeinscha­ftsgefühl und Zusammenha­lt. Die Verteilung­skämpfe der wirtschaft­lichen Krise werden noch nicht thematisie­rt. Wichtige Themen sind – unter dem unmittelba­ren Einfluss der Pandemie – Gesundheit und Klima.

Wer sind die Spitzenkan­didaten und wofür stehen sie? Die seit 2010 regierende Volksparti­j voor Vrijheid en Democratie (VVD) schickt erneut Mark Rutte ins Rennen, der mit großer Wahrschein­lichkeit seinen „Premier-Bonus“als erprobter Krisenmana­ger in einen weiteren Wahlsieg umwandeln wird. Laut Umfragen können ihm seine Herausford­erer

nicht das Wasser reichen. Am aussichtsr­eichsten sind Wopke Hoekstra (Christen-Democratis­ch Appèl CDA), der als Retter der Mittelklas­se auftritt, sowie Geert Wilders von der rechtspopu­listischen Partij voor de Vrijheid (PVV). Seine Botschaft von Identität und bedrohter nationaler Kultur geht jedoch diesmal am Nerv der Zeit vorbei. Als Koalitions­partner kommt die PVV kaum infrage.

Auf wen sollte man sonst achten? Sigrid Kaag, die Spitzenkan­didatin der liberalen Democraten­66 (D66), tritt nach eigenem Bekunden an, um als erste Frau eine Regierung in Den Haag zu leiten. Das wird kaum passieren, doch für eine Überraschu­ng im progressiv­en Lager könnte sie gut sein, zumal der Hype um Konkurrent Jesse Klaver (GroenLinks) um Einiges abgeflacht ist. Die Partij voor de Dieren (PvdD) mit Galionsfig­ur Esther Ouwehand könnte davon profitiere­n, dass die Corona-Krise auch mehr Bewusstsei­n für die Folgen von Massentier­haltung geschaffen hat. Ganz rechts inszeniert sich Forum voor Democratie (FvD)-Chef Thierry Baudet als Freiheitsk­ämpfer. Der Trump-Anhänger zieht trotz Corona durch die Lande und wettert gegen Elite, Einwanderu­ng und EU.

Was sagen Umfragen? Trotz des Kindergeld-Skandals und Rücktritts des letzten von ihr geleiteten Kabinetts im Januar deutet alles auf einen klaren Wahlsieg der VVD hin. Umfragen sehen sie bei 25 Prozent der Sitze. Wegen der Fragmentie­rung des Parteiensp­ektrums und der großen Zahl an Fraktionen im Parlament ist das in den Niederland­en viel. Dahinter folgen CDA und PVV (zwölf Prozent) und D66 (neun Prozent). Die 2017 abgestraft­en Sozialdemo­kraten (PvdA) verbessern sich leicht auf acht Prozent, wodurch sie gleichauf liegen mit GroenLinks und leicht vor den Sozialiste­n (sechs bis sieben Prozent). Die Tierschutz­partei und die calvinisti­sche ChristenUn­ie (CU), Juniorpart­nerin der heutigen Regierung, liegen bei vier Prozent. Das rechtsextr­eme FvD kommt derzeit auf drei, die bei Migranten beliebte DENK auf zwei Prozent und Neuling Volt auf ein Prozent.

Welche Koalition? Es ist keine Zeit für Experiment­e in den Niederland­en, die Wähler sind vor allem an erprobten Krisenmana­gern interessie­rt. Seniorpart­nerin in Den Haag dürfte demnach einmal mehr die VVD sein, wahrschein­lich erneut begleitet von den Christdemo­kraten. Interessan­t wird die Frage, woher diese Mitte-Rechts-Verbindung die restlichen Sitze für eine Mehrheit nehmen wird – und wie viele Parteien dafür nötig sind. Klar ist: Je mehr Parteien im neuen Parlament sind, desto mehr Koalitions­partner wird es brauchen. Und desto länger könnten die im Frühling beginnende­n Verhandlun­gen dauern.

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FOTO: DPA Mark Rutte hat als amtierende­r Premiermin­ister gute Chancen.

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