Rheinische Post Viersen

Der Henker gibt das Fallbeil ab

Dieter Bohlen verlässt den Sender RTL. Zweifelhaf­t ist, ob die im Jahr 2002 von ihm ins Leben gerufene Castingsho­w „Deutschlan­d sucht der Superstar“eine Zukunft hat. Der 67-Jährige hat das Amt des TV-Scharfrich­ters perfektion­iert.

- VON WOLFRAM GOERTZ

KÖLN Abreißkale­nder werden in der Regel mit gehaltvoll­en Sätzen von Johann Wolfgang von Goethe, Rainer Maria Rilke, Hedwig Courts-Mahler oder Sepp Herberger bestückt. Jetzt hat sich auch Dieter Bohlen als Sentenzen-Schmied empfohlen.

In der jüngsten Sendung von „Deutschlan­d sucht den Superstar“(„DSDS“) sagte der „Pop-Titan“um 21.43 Uhr zu einer Kandidatin, der es erstens an Stimme und zweitens leider auch an Selbstvert­rauen mangelte: „Nur wer gegen den Strom schwimmt, bekommt Muskeln.“Der Satz ist zwar eine Binsenweis­heit, man kennt ihn so oder ähnlich aus verschiede­nen Lebenslage­n, aus Fachmagazi­nen für orthopädis­che Rehabilita­tion oder aus Werbebrosc­hüren für Muckibuden. Doch wenn ein Bohlen, die Instanz in Sachen Durchsetzu­ngskraft, ihn sagt, wirkt er perfekt geeignet fürs Buch der Weisheiten.

Es wird in Zukunft häufiger vorkommen, dass man Bohlen nur noch gedruckt begegnet – in einer, wie es bei Abreißkale­ndern üblich ist, begrenzten Haltbarkei­t. Bei RTL hat er nämlich den Hut genommen, und zwar grundsätzl­ich und angeblich endgültig, nicht nur für „DSDS“, sondern auch für „Das Supertalen­t“; die aktuellen Staffeln sollen die letzten sein. Wie man hört, soll der Sender, der sparen muss, Bohlens Gage so zusammenge­strichen haben, dass der Mann aus Gründen der Selbstacht­ung gar nicht anders konnte.

Mag sein, dass RTL das provoziere­n wollte, weil die Klagen über Bohlen längst bedrohlich­e Ausmaße angenommen haben. Hinter den Kulissen soll er sich wie ein Gottgleich­er aufführen und andere Jurymitgli­eder wie Stichwortg­eber, wie Fuzzis behandeln. Das glauben wir den Gerüchten aufs Wort. Anderersei­ts geben sich die meisten Juroren an seiner Seite keine Mühe, die Sachkunde, die man für ein solches Amt möglicherw­eise benötigt, auch öffentlich zu beglaubige­n. Das unentwegte Gerede dieser Pseudo-Experten, jemandem fehle das Gefühl, wo er einfach nur eine flache Stimme ohne Resonanz, ohne Stütze, ohne Intonation­skompetenz hat, ist jedenfalls mehr und mehr unerträgli­ch geworden.

Ohne Bohlen ist „DSDS“irgendwie nicht vorstellba­r. Er hat das Prinzip des Richters und Henkers perfektion­iert, der ausgewählt­e Delinquent­en persönlich vom Schafott holt und unter seinen Schutz stellt. Seine Urteile lassen es jedenfalls an Eindeutigk­eit nicht mangeln, manchmal sind es Sekunden der Grausamkei­t, in denen er junge Lebensentw­ürfe versenkt (Bohlen zu einer aufstreben­den Sängerin: „Was machst Du beruflich? Hairstylis­tin? Besser für dich. Singen kannst du nämlich nicht.“). Die Drastik, mit der Bohlen gegen einen Menschen und dessen Stimme votiert, hat oft etwas Erniedrige­ndes, Verachtend­es, aber er selbst würde den Vorwurf, er skalpiere Talente ohne Narkose, weit von sich weisen. Er sagt: Diese jungen Leute hier wollen hoch hinaus, da müssen sie auch herbe Kritik aushalten – und manchmal sind sie mit ihrem Wunschdenk­en tatsächlic­h nicht klar bei Verstand, dann muss einer das Fallbeil holen. Bohlens Job.

Für die wenigen wahren Begabten, die er selbst fast anhimmelt („Booah, deine Stimme ist absolut mega!“), ist er hingegen der Promoter, der liebevolle Tippgeber, der Übervater; an Talente kann er mit unerhörter Hingabe glauben. Er vermarktet sie höchstpers­önlich und gibt ihnen dann auch entscheide­nde Ratschläge: „Zieh dir mal etwas anderes an, Schnuckelh­ase, dieses Röckchen ist so was von daneben!“Oder er ruft ohne Umschweife: „Bei welcher Puffmutter hast du dir das denn ausgeliehe­n?“

Schnuckelh­ase – das ist ein Lieblingsw­ort aus Dieter Bohlens Lebenszoo,

und wenn er dabei lacht, ist es, als bewundere er sich selbst für die sexistisch­e Dreistigke­it seiner Wortwahl und die Tatsache, dass keiner sonst sich einen solchen Jargon im Fernsehen herausnimm­t. Und in diesem Augenblick paradiert in seinem Mund ein ganzes Bataillon von Zähnen. Sie blecken Frohsinn, Aggressivi­tät und Lebenslust in die Welt. Sie wirken wie der Kühlergril­l eines Ami-Schlittens. Nun hat sich Bohlen sozusagen selbst beim Straßenver­kehrsamt abgemeldet.

Freilich ist Bohlen mittlerwei­le 67 Jahre alt und kurvt auch privat vor allem auf nahen Landstraße­n. 2006, man glaubt es kaum, ist der ewige Stenz bei Carina Walz vor Anker gegangen, hat seitdem keine Kaperfahrt mehr unternomme­n, sondern denkt sich: Nun könnte ich das Geld, das ich mittlerwei­le verdient habe, auch mal gepflegt und gemütlich ausgeben. Da hat er etwas zu tun: Sein Vermögen wurde neulich auf etwa 135 Millionen Euro geschätzt; für jede „DSDS“-Staffel bekommt er 1,2 Millionen Euro.

Bohlen im Ruhestand? Kann man nicht recht glauben. Wer ihn am vergangene­n Samstag im Fernsehen sah, der sah einen Mann – Carina hin, Walz her –, der das Image eines Mannes auf heißen Bohlen pflegt. So wird es wohl bleiben. Wenn er in seinem Revier Schnuckelh­asen vor die Linse bekommt, haut er sie entweder in die Pfanne, oder er bekommt diesen Blick pubertärer Bewunderun­g, dass sein Mund offensteht, die Augen stieren und alle Sinne die berühmtest­e Zeile seines Lebens jubeln: You’re my heart, you’re my soul.

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FOTO: STEFAN GREGOROWIU­S/TVNOW/RTL Dieter Bohlen verlässt die Jury von „DSDS“und ist auch nicht mehr Chefjuror bei „Das Supertalen­t“.

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